Kanada/E/J 2011 · 116 min. · FSK: ab 12 Regie: Sarah Polley Drehbuch: Sarah Polley Kamera: Luc Montpellier Darsteller: Michelle Williams, Seth Rogen, Luke Kirby, Sarah Silverman, Jennifer Podemski u.a. |
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Wie viel Lücken darf ein Leben haben? |
Now in Vienna there’s ten pretty women.
There’s a shoulder where Death comes to cry.
There’s a lobby with nine hundred windows.
There’s a tree where the doves go to die.
(Leonard Cohen, Take this Waltz)
Nachdem sich Sarah Polley in ihrem großen Debütfilm An ihrer Seite dem Winter einer Beziehung zugewandt hatte, ein Film, der auch tatsächlich im Winter spielt – und dabei zärtlich und vielschichtig beobachtete, wie Demenz ein Liebesgleichgewicht nachhaltig stört – wendet sich Polley in Take this Waltz dem beginnenden Sommer einer Beziehung zu. Das impliziert allerdings nicht nur Leichtigkeit und Wärme, sondern auch, dass der Frühling vorbei, die Leidenschaft ritualisiert, das Begehren gesättigt ist, das »Andere« im Anderen nicht mehr nur exotisch und anziehend, sondern mitunter als störend empfunden wird.
Ähnlich wie in An ihrer Seite – allein statt ländlicher Winterlandschaft heiße Sommermonate in Toronto – nähert sich Polley auch ihrem Sommerpaar Margot (Michelle Williams) und Lou (Seth Rogen) behutsam, vorurteilslos, zärtlich an. Beide in ihren Endzwanzigern und fünf Jahre verheiratet stellen fest, dass weder Sex noch Gespräche die alte Durchschlagskraft haben. Lou, den täglich begeistert haushaltenden Kochbuchautoren verwirrt dieser Zustand mehr als dass er ihn stört – er sieht die Veränderung vielmehr durch Margot gespiegelt, ohne zu wissen, wie er damit umgehen soll. Margot, die nach einer zufälligen Begegnung mit einem neuen Nachbarn (Luke Kirby) plötzlich wieder die alte klare Stärke unmissverständlichen Begehrens spürt, hat den Liebesalltag mit Lou zu hinterfragen begonnen und stellt dabei auch eine der grundsätzlichsten Fragen im Leben: Wie viel Lücken, Leerstellen, Defizite darf, kann ein Leben haben – reicht eine schon aus, um handeln zu müssen und gegenzusteuern?
Polley beantwort dieser Frage spielerisch, humorvoll, romantisch, dramatisch – kurzum: völlig genreübergreifend. Dabei wird sie von einem nahezu leerstellenfrei brillierenden Schauspielensemble unterstützt, allen voran Michelle Williams (zuletzt ebenso brilliant in Meek’s Cutoff und Blue Valentine) und Seth Rogen, der die feinen Übergänge von Komödie zu Tragödie atemberaubend meistert und mehr noch: Polleys ambivalenten Zugang zum Leben auch schauspielerisch greifbar macht.
Polleys Antwort auf Leben und Begehren wäre allerdings bei weitem nicht so tragfähig ohne ihre nüchterne und dabei doch lyrische Hinwendung zur Zweideutigkeit, die in dieser Radikalität nur ein weiterer, ebenfalls kanadischer Regisseur derartig konsequent umzusetzen versteht, Atom Egoyan. Polley, die u.a. in Egoyans Das süße Jenseits eine tragende Rolle verkörperte, ist sich dieses Einflusses ebenso bewusst wie Egoyan [1], spitzt die emotionale Dramaturgie allerdings deutlicher zu als dieser, nicht nur in den großartigen Kamerafahrten zu Beginn und am Ende von Take this Waltz, sondern auch im völlig überraschenden zentralen Moment des Films, in dem sie zu einer Walzerkomposition des Kanadiers Leonard Cohen [2] in einer großartigen Einstellung den Frühling einer Beziehung Revue passieren lässt.
Doch Polley benutzt nicht nur Cohens subtile Musik und Lorcas uneindeutige Lyrik, sondern integriert mit der Schwester von Lou (Sarah Silverman) eine Art griechischen Chor, der wie historisch üblich stets ein wenig mehr weiß als die handelnden Protagonisten und am Ende überzeugend und realistisch erkennt, dass es immer eine Lücke im Leben gibt, die sich nicht füllen lässt, die aber nichtsdestotrotz fast jeder umso verzweifelter und auf seine individuelle Weise zu füllen versucht.
[1] Siehe hierzu ein Interview mit Polley und Egoyan anläßlich Polleys gerade erschiener Doku »The Stories We Tell« und ihrer kommenden Adaption eines Buches von Margaret Atwood.
[2] Take this Waltz: übersetzt und vertont nach dem Gedicht »Kleiner Wiener Walzer« von Frederico Garcia Lorca.