Frankreich 2002 · 94 min. · FSK: - Regie: Abbas Kiarostami Drehbuch: Abbas Kiarostami Kamera: Abbas Kiarostami Darsteller: Mania Akbari, Amin Maher, Kamran Adl, Roya Arabashi u.a. |
Der neue Kiarostami-Film Ten folgt einer radikalen Ästhetik der Reduktion. Insbesondere von zwei Elementen, die dem iranischen Kino der letzten zwanzig Jahre zu einer treuen Zuschauergemeinde verholfen haben, distanziert er sich dabei: von den schlichten und schönen, ganz für sich sprechenden Bildern, die jenseits der effekthascherischen Illusionsmaschine Hollywoods einen Blick auf eine unbekannte Welt gewährten, sowie vom einfachen, linearen, parabelhaften Plot, dem es gelang, den Alltag dieser Welt in ein episches Zeitmaß zu fassen und über die Besonderheit der geschilderten Lebensumstände hinaus einer größeren Allgemeinheit verständlich zu machen.
Nun engt Kiarostami den Blick provokativ ein und er forciert das Alltägliche, indem er einige wenige Aspekte in der Wiederholung des Immer-Gleichen herausgreift. Er schränkt auch seine Darstellungsmöglichkeiten streng ein. Kiarostami hat sich gewissermaßen seine eigenen Dogma-Regeln auferlegt. Gefilmt wurde nur mit zwei Digital-Kameras, die am Rückspiegel eines Autos angebracht waren. Die eine Kamera war auf den Fahrersitz gerichtet, die andere auf den Beifahrersitz. Auf dem Fahrersitz befindet sich immer dieselbe Frau, sie fährt mit dem Auto durch Teheran. Als Beifahrerinnen chauffiert sie ihre Schwester, eine Freundin, eine Prostituierte, eine Gläubige und – als einzigen männlichen Fahrgast – ihren achtjährigen Sohn Amin. Manche der Fahrgäste kommen öfter vor, der Sohn zum Beispiel vier Mal.
Insgesamt schildert der Film zehn solcher Fahrten (der Titel nimmt also ganz lakonisch Bezug auf den formalen Rahmen). Man sieht nur zwei Arten von Einstellungen, die Fahrerin oder die jeweiligen Beifahrerinnen bzw. den Sohn, in unterschiedlicher Schnittfrequenz; die erste Sequenz etwa zeigt ohne Schnitt nur den Sohn während des heftigen Disputs zwischen ihm und seiner Mutter. In diesen Debatten und Streitreden wird das Drama der sich emanzipierenden Frau im heutigen Iran zwischen Patriarchat und Fundamentalismus sichtbar: die Fahrerin hat sich von ihrem sehr traditionell denkenden Mann scheiden lassen, der Sohn (der auf geradezu penetrante Weise die reaktionären Positionen des Vaters ständig wiederkäut) will nicht bei der Mutter und ihrem neuen Lebensgefährten bleiben, was letztlich dazu führt, daß die Mutter dem Vater das Sorgerecht überläßt. Das spielt sich sozusagen im Hintergrund ab, in den Zwischenzeiten zwischen den einzelnen Fahrten mit dem Sohn, den sie mal zum Schwimmbad fährt, mal zur Großmutter, oder aber zum Treffpunkt mit dem Vater, der in seinem Auto auf der anderen Straßenseite sitzend den Sohn wieder in Empfang nimmt.
Auch die anderen Frauen wie die Schwester oder die Freundin, die zwei Mal mitfahren, haben zwischen den Fahrten etwas durchgemacht, bei ihnen handelt es sich jeweils um eine gescheiterte Liebesbeziehung, das Zerbrechen einer Illusion, auf die sie ihr ganzes Lebensglück setzten, im Gegensatz zur Hauptfigur der Fahrerin, die sich nicht nur auf die Liebe verlassen, sondern sich beruflich als Photographin verwirklichen möchte.
Die Prostituierte dagegen, mit ihrem Skeptizismus, mit ihrem Spott auf alles Idealisierte und Überbauartige (sei es nun religiös oder bürgerlich, individualistisch oder politisch begründet), hinterfragt mit ihrem Lachen, das alle Schattierungen zwischen wahrhaft zynischem Gelächter und amüsiertem Kichern und kindischem Glucksen abdeckt, alle Positionen von einer materialistischen Basis aus, sie dekonstruiert alle Formen der ehelichen oder romantischen Liebe von der Realität des Begehrens aus.
Tatsächlich bleibt am Ende des Films so etwas wie Resignation bei der Hauptfigur, die nach Selbstverwirklichung strebt: es wirkt, als hätte sie den Sohn an den Vater verloren, als hätte sie es aufgegeben, um ihn zu kämpfen, um seine Zuneigung, um die Chance, aus ihm eine andere Typ Mann zu machen, als es der Vater ist. Und so hat es etwas sehr Bitteres, aus dem Mund des Kindes die bornierte Forderung nach einer Mutter, nach einer Frau zu hören, deren Platz im Haus ist, in der Küche,
die für Essen und einen ordentlichen Haushalt sorgen muß und ihre eigenen Belange hintanzustellen hat.
An der Figur der Fahrerin wird exemplarisch klar, was es bedeutet, für sich selbst eine Position erkämpfen zu wollen, sich behaupten zu wollen: man setzt sich damit den anderen gegenüber manchmal auch ins Unrecht, macht sich angreifbar. An diesem undankbaren Punkt steht diese Frau in Ten. Und Kiarostami hat mit seiner minimalistischen Technik ein Mittel
gefunden, diesen Prozeß in geradezu dramatischer Weise aus nächster Nähe mitzuverfolgen und dabei eindringliche Momente starker Intensität zu erzeugen.
Der fixierte Rahmen der zwei Kameraeinstellungen und das gleichförmige Schema der zehn Sequenzen (manche bestehen aus einem ungeschnittenen Take), das dem dargestellten Inhalt vollkommen gleichgültig gegenübersteht, sorgen dafür, daß Ten keiner herkömmlichen Dramaturgie gehorcht. Man glaubt zunächst, es einfach mit einer willkürlichen Anhäufung beliebiger Szenen zu tun zu haben.
Die Dispute, die im Auto geführt werden, Dispute um Liebe und Sex, um Glück und Beruf, um Werte der Familie und der Religion, um Belange wie den Tschador, die Gebete, den Kindergarten, dann alltägliche Tätigkeiten wie Kuchen kaufen, Geburtstagsfeiern vorbereiten, ins Restaurant gehen, Parkplatz suchen, schließlich der städtische Hintergrund, der nur vom Auto aus erfaßt wird, die Straßen, der Verkehr, der Lärm, Bäume, Geschäfte: All das sind die Bausteine, die zu so etwas wie einem Infrarealismus des Unbedeutenden beitragen. Die Realität selbst, so meint man, ist draußen, im Off, sie wird im Diskurs, im Gespräch evoziert und angeschnitten, sie scheint auf im Affekt, der sich in der Gesichtern, in den heftigen Wortwechseln ausdrückt, sie ist immer nur als Indiz, als Andeutung da, in Symptomen, kleinen Zeichen und Details, die auf Interpretation angewiesen sind. Das Auto wird zu einer Art Echokammer der Wirklichkeit. Und die gesellschaftliche Realität, das Allgemeine, ist dabei das, was sich repräsentativer direkter Darstellung entzieht, was sich im Diskursiven gleichermaßen auflöst und verdichtet, sich nur im Nebensächlichen, im Unbedeutenden des Geredes, im Dazwischen und Daneben der Gesten, in den Falten und Nischen des Alltäglichen verbirgt. Kiarostamis war dabei für iranische Verhältnisse deutlich und explizit genug, um sich für den Film ein Aufführungsverbot einzuhandeln.
Der dokumentarische Gestus, den Kiarostami hier radikalisiert, nährte sein Kino schon immer; Ten stellt vom narrativen Ansatz her eine formale Verschärfung seines Films Der Geschmack der Kirsche dar, der ja auch bereits den Autofahrer und seine Beifahrer als Strukturprinzip verwendete. Das Dokumentarische bei Kiarostami ist dabei häufig an die Räume im konkret physikalischen Sinn gebunden: an eine Geometrie der Wege und zurückgelegten Strecken, über deren Verlauf und Nachzeichnung sich die schlichte Eleganz der parabelhaften Geschichten wie von selbst ergab.
Aber das Vertrauen auf einfache Fabeln, das seine frühen Filme, und nicht nur seine für Kinder gedachten Filme, auszeichnete, scheint Kiarostami nun abhanden gekommen zu sein. Anderseits hatte Kiarostami den Versuch, das reine parabelhafte Erzählen mit Formen des Reflexiven aufzubrechen, bereits erfolgreich absolviert: mit verblüffend einfachen, aber höchst raffiniert verschränkten Spiegeleffekten zwischen Fiktion und Realität war es ihm in Und das Leben geht weiter und Quer durch den Olivenhain gelungen, souverän den stilistischen Bogen vom Neorealismus zum intellektuellen Autorenfilm zu schlagen. In Ten möchte sich Kiarostami jetzt seines Autorenstatus entledigen, folgt man seinen Aussagen in Interviews. Er nutzt dazu die digitalen Kameras, die eine Verkleinerung des autoritären und einschüchternden technischen Apparats ermöglichen. Den Schauspielern soll so eine größere Freiheit und Eigenständigkeit eingeräumt werden. Kiarostami knüpft mit seinen Äußerungen vom Rückzug des Regisseurs zudem an das an, was er anläßlich einer in den Cahiers de Cinéma dokumentierten Podiumsdiskussion 1995 skizziert hat: der Film der Zukunft würde lediglich ein Angebot an den Zuschauer sein, würde diesen in seiner möglichst offenen Form Vorschläge zum Weiterdenken unterbreiten, zur kreativen Auffüllung der absichtlich gelassenen Lücken. Der auf der Leinwand gezeigte Film enthalte in sich hundert andere Filme, die der jeweilige Betrachter erst zu realisieren vermag.
Freilich ist das ein wenig Koketterie, wenn Kiarostami davon spricht, sich als Regisseur vollkommen zurückzunehmen. Die Proben für die Aufnahmen waren sehr intensiv, die Arbeit an den Dialogen sehr sorgfältig, auch wenn der Film einen sehr spontanen Eindruck macht. Kiarostami wird in seinem Kino, bei dem der Zuschauer schon immer eher in der Position des Beifahrers sich fand, das Steuer des Fahrers nicht wirklich aus der Hand geben.
Allerdings scheint Kiarostami bereit zu sein, mit der Anwendung der digitalen Technik und ihrer weniger durch einen schweren Apparat behinderten Handhabung auch seine bisherige Ästhetik (und damit die der iranischen Kino-Schule) in Frage zu stellen. Jedenfalls gewinnt er damit wieder eine kritische Intensität in der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, wo ihn doch in seinem letzten großen Erzähl-Film »Der Wind wird uns tragen« die stille Kraft der schlichten Bilder ein wenig zu sehr in die Nähe einer affirmativen Feier des bloßen Daseins geraten ließ. Und mit dieser Bereitschaft zu neuen Techniken scheint er zumindest unter den iranischen Filmern, die bei uns bekannt sind, eine Vorreiterrolle zu spielen.