N/F/S/DK 2017 · 116 min. · FSK: ab 12 Regie: Joachim Trier Drehbuch: Joachim Trier, Eskil Vogt Kamera: Jakob Ihre Darsteller: Eili Harboe, Kaya Wilkins, Henrik Rafaelsen, Ellen Dorrit Petersen, Grethe Eltervåg u.a. |
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Wach- oder Alptraum? |
Mit so eindrucksvollen, wie überaus rätselhaften Bildern beginnt dieser Film. Ein Vater wandert mit seiner kleinen Tochter in einer Polarlandschaft. Sie gehen auf einem vereisten See. Die Tochter, die einen tiefroten Mantel trägt, deren Blick wir teilen und die dadurch von Anfang an ins Zentrum gerückt wird, hält inne, und wir können unter dem Eis die Fische sehen. Dann wechselt urplötzlich die Perspektive, und wir sehen durch das Eis hindurch von unten das Mädchen in Rot. Wie hinter
Glas, wie in einem Schneewittchensarg…
Dann sind Vater und Tochter im Wald. Sie entdecken ein Reh, und der Vater legt das Gewehr an, um abzudrücken. Wie gebannt zwischen Mitleid und Spannung starrt das Mädchen auf das Tier. Nur wir sehen, wie der Vater die Waffe dreht, auf sein Kind zielt, und man fürchtet tatsächlich, er wolle abdrücken. Doch da bewegt sich das Reh.
Gewalt liegt von Anfang an in der Luft, Anspannung und ein undefinierbares Etwas, ein Unkontrollierbares, das noch darin spürbar ist, dass hier viele Menschen ein seltsames Bedürfnis nach Kontrolle zu haben scheinen. Aber was soll hier kontrolliert werden?
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In der folgenden Szene ist das kleine Mädchen erwachsen geworden. In einer Stadt beginnt sie ihr Studium: Biologie, nicht zufällig, wie sich herausstellen wird. Denn Thelma, die Heldin dieses Films, ist offenkundig besonders interessiert an Tieren, und besonders sensibel für alles, was mit Natur zu tun hat.
In den nächsten Filmminuten erfahren wir mehr über sie: Thelma kommt offenbar aus einer streng christlichen Familie, hat noch nie Alkohol getrunken, geraucht und Drogen ausprobiert, und sie hat auch noch nie einen Freund gehabt. Anfangs fühlt sie sich sehr einsam.
Sie bekommt tägliche Anrufe ihrer Eltern, die offenbar ein übergroßes Kontrollbedürfnis haben, die ihren Uni-Vorlesungsplan kennen, sie nach ihrem Essen fragen, und die der Tochter überhaupt über Gebühr auf die Nerven gehen. Aber Thelma bleibt freundlich mit ihnen, fast nachsichtig, nur wir werden Zeuge ihrer kleinen Lügen, erkennen, dass sie den Eltern nicht alles erzählt, dass sie neugierig ist und offen für die Welt, sich langsam ausprobiert und kleine Freiheiten erobert.
Sie erzählt den Eltern auch nichts von den Alpträumen, in denen eine Schlange über ihre Haut kriecht und von dem Zusammenbruch, den sie in der Uni-Bibliothek hatte, ein epileptischer Anfall womöglich. Anja, ein Kommilitonin, die ihr damals geholfen hatte, wird bald ihre beste Freundin, gemeinsam mit ihr probiert Thelma auch mal ein Glas Wein oder eine Zigarette.
Doch immer ist das begleitet vom schlechten Gewissen, immer verstehen es die Eltern, Thelma im falschen Moment anzurufen, sie auszuspionieren, ihr jede Freude sofort zu vergällen.
Erst recht, als Thelma mit Anja ein Konzert besucht, und an diesem Abend klar wird, dass mehr zwischen beiden sein kann, als bloße Freundschaft.
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Was ist das für ein Film? Geht es um Liebe zwischen Frauen? Geht es um die Repression durch eine christlich-fundamentalistische Kreationistenfamilie? Um Religion als Krankheit?
Oder geht es einfach um Trauma und Wahnsinn?
Denn der neue Film des norwegischen Regisseurs Joachim Trier verbindet Elemente des Mystery-Films mit Horror und mit Motiven des Psychothrillers. Alles das spielt eine Rolle, aber die Antwort liegt doch woanders.
Er ist seit jeher der Mann für ungewöhnliche Stoffe, für die Verbindung der künstlichen Paradiese des Genrekinos mit dem hohen Anspruch des Autorenkinos: Der Norweger Joachim Trier, Jahrgang 1974, ist ein Solitär unter den europäischen Regisseuren. Ohne den Moralismus anderer skandinavischer Filmemacher, ohne Berührungsängste gegenüber »opulenten« Bildern und ohne Angst vor billigen Effekten, gelangen ihm bisher drei jeweils sehr unterschiedliche, gleichermaßen sehr erfolgreiche Filme: »Auf Anfang [:reprise], Oslo, 31. August, Louder Than Bombs. Jetzt kommt Thelma ins Kino, und wieder passt dieser Film zur ungewöhnlichen Handschrift des Regisseurs und ist doch etwas ganz Neues, Anderes.«
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Erkennbar hat Thelma eine extreme Anspannung in sich. Immer wieder hat sie ihre Anfälle, die Ärzte sind ratlos, sprechen von »psychogenetischen« Anfällen, ein Begriff der auf Jean-Martin Charcot anspielt, jenen berühmten französischen Arzt, der im 19. Jahrhundert die moderne Psychiatrie begründete und auch über Trance, Hypnose und Hexen forschte.
Und man sitzt im Publikum und rätselt: Was ist mit Thelmas kleinem Bruder? Warum sitzt die Mutter im Rollstuhl? Und was bedeutet es, dass Thelma sehr oft, auch in den Erinnerungen an ihre Kindheit, rote Kleidungsstücke trägt?
Die meisten dieser Fragen werden im Lauf des Films beantwortet. Thelma ist ein enorm spannender, zwingend erzählter Film, zugleich gerade in seiner anhaltenden Rätselhaftigkeit ausgezeichnet inszeniert und gespielt. Der Reiz des Films liegt nicht zuletzt darin, dass er sich konsequent auf die Perspektive seiner Hauptfigur einlässt, und dass er für das Irrationale, Unbegreifbare, um das er sich dreht, bildliche Mittel findet.
Hier wird nichts benannt, aber es wird alles gezeigt.
Was man hier sieht, ist weniger ein besonders nordischer Touch, als die Verbindung junger zeitgenössischer Erlebniswelten mit Mystery-Horror-Thrill der letzten Zeit. Das Vorbild liefern der Vampirkinderfilm So finster die Nacht, die französische Serie »Les Revenants« und natürlich Stranger Things.
Diesen Kindern von Lynch, Deleuze und Björk Gudmundsdottir geht es um nichts als um Freiheit. Alles ist erlaubt. Wenn Gott tot ist, dann herrschen die Geister.