Deutschland 2011 · 114 min. · FSK: ab 0 Regie: Paul Smaczny, Günter Atteln Drehbuch: Günter Atteln Kamera: Michael Boomers, Christian Schulz Schnitt: Steffen Herrmann |
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Werbefilm für Eltern |
Eine Stereoanlage steht auf einem stillen Flur. Es ist noch sehr früh am Morgen. Ein Teenager, so um die 15 Jahre alt, läuft ins Bild und schaltet das Gerät ein. Unmittelbar reagiert es mit den ersten Takten von Bon Jovi’s »It’s my life« in brechender Lautstärke. Der rockige Weckruf wirkt – immer mehr Jungen werden wach und machen sich bereit für einen neuen Tag als Mitglied eines der berühmtesten und ältesten Knabenchöre der Welt: dem Leipziger Thomanerchor. Dieser feiert 2012 sein 800-jähriges Bestehen, wofür ihm jede Menge öffentliche Aufmerksamkeit gebührt.
Die Regisseure Paul Smaczny und Günter Atteln haben ihren Respekt für diese Institution auf Film gebannt, indem sie die jungen Sänger des Chors ein Jahr lang in ihrem arbeitsamen Alltag bei heimischen und internationalen Auftritten, bei Proben und während ihrer Freizeit begleiten. Der Zeitraum für das Projekt – Sommer 2010 bis Sommer 2011 – ist klug gewählt, denn dieser steht im Zeichen eines Übergangs: Im Jubiläumsjahr soll das Forum Thomanum fertig werden, ein international ausgerichtetes Bildungszentrum. Dass die Institution, in der Johann Sebastian Bach von 1723 bis 1750 Kantor war, im Heute angekommen ist, beweisen nicht nur Rocksongs am Morgen und Full Metal Village-Poster im Zimmer: Im Zuge des Umbaus wird für jeden einzelnen der 93 Thomaner mehr Platz geschaffen.
Als Dokumentation, wie er deklariert ist, enttäuscht der Film, weil er viele Chancen nicht nutzt, die das Genre bietet. Es scheint, als hätte die Jahrhunderte alte Einrichtung samt heutiger Hüter den Filmemachern den Mut abgekauft, ein paar Seitenblicke zu riskieren, die mit der Draufsicht in einen interessanten Diskurs hätten geraten können. Damit sind keine voyeuristischen Schnüffeleien gemeint, sondern nahe liegende Fragen, die sich der interessierte Zuschauer stellt. Zum Beispiel zur Historie: 800 Jahre Thomanerchor seien 800 Jahre Musik von Kindern, die arm waren und in den Krieg ziehen mussten bis zu denen, die heute mit der Playstation spielen, sagt Thomaskantor Georg Christoph Biller zu Beginn des Films. Das klingt vielversprechend, doch die generierten Bilder werden nicht verfolgt, da Smaczny und Atteln ausdrücklich von einem historischen Abriss über den Chor absehen. Ergo bleiben Geschichten über Sänger im Mittelalter, berühmte Chorschüler wie Richard Wagner oder die Existenz des Chores während der DDR-Zeit unerzählt und der Fokus versteift sich auf die »Thomasser« von heute. Dieses Vorgehen wäre zu respektieren – wenn es nicht noch weitere Versäumnisse gäbe, aufgrund derer die 113 Filmminuten schnell langweilig werden. Beide Regisseure vergleichen den Thomanerchor mit dem Idealbild einer Republik, in der der Einzelne eine unverzichtbare Rolle spiele. Doch weil zum Leben (in einer Republik) nun einmal Konflikte gehören, ist es für eine umfassende Dokumentation fatal, deren Existenz zu unterschlagen. So werden Probleme der Chormitglieder untereinander oder mit externen Schülern des staatlichen Leipziger Thomasgymnasiums kaum erwähnt und nie gezeigt. Wie fühlt sich ein Junge, wenn er aufgrund seines Stimmbruchs für längere Zeit nicht mitsingen kann? Warum wird kein Thomaner dabei begleitet, wie er eine gemeinnützige Arbeit verrichten muss, nachdem er eine Regelwidrigkeit begangen hat? Der Film scheint nur für die im Rampenlicht etwas übrig zu haben und zeigt die Chormitglieder eben nicht in einer weltoffenen Republik, sondern in einer selbstreferentiellen Monade. Nur ab und an scheint diese etwas durchlässiger zu werden, beispielsweise, wenn ein Abiturient von den Dingen redet, die man für den Chor aufzugeben bereit sein muss, oder wenn der Bezug der Kinder zur Religiosität zur Sprache kommt – zumindest diese bei der Bach’schen Musica Sacra so essentielle Frage wurde nicht ausgelassen. Doch auch bei dem Versuch, »das Geheimnis der Faszination zu ergründen, die von diesem berühmten Chor ausgeht«, wie es im Pressetext heißt, scheitert der Film. So muss die Methodik offenbar Chorgeheimnis bleiben, mit der Biller seinen Sängern die »seelischen Zustände« nahebringt, die die Musik transportiert und deren Verständnis für eine überzeugende Darbietung vonnöten ist.
Die Thomaner ist in erster Linie ein großes Geburtstagsgeschenk an den Thomanerchor selbst, er eignet sich auch als Werbefilm für Eltern, die erwägen, ihrem begabten musikalischen Buben eine solch exklusive Erziehung angedeihen zu lassen. Auch Musikliebhaber werden ihre Freude haben, da sämtliche Auftritte des Chors mit schönen Bildern erfasst sind. An diesen erkennt man, dass die beiden mehrfach ausgezeichneten Regisseure ihr Handwerk als Musikdokumentaristen beherrschen. Als umfassendes Portrait aber kann dieser enttäuschend oberflächliche Film nicht bestehen.