Deutschland 2016 · 91 min. · FSK: ab 16 Regie: Jakob Lass Drehbuch: Jakob Lass, Ines Schiller, Hannah Schopf, Eva-Maria Reimer, Nico Woche Kamera: Timon Schäppi Darsteller: Ella Rumpf, Maria Dragus, Enno Trebs, Orce Feldschau, Swiss u.a. |
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Spontaneität und Stilisierung |
2013 hatten hierzulande viele Cinephile das Gefühl, dass ein Ruck durch die deutsche Filmlandschaft gehen würde. Der Grund: Jungfilmer Jakob Lass hatte gerade seinen überdrehten No-Budget-Liebesfilm Love Steaks rausgehauen. Zu großen Teilen improvisiert und überwiegend mit Laiendarstellern gedreht, brachte der Studentenfilm unverhofft die Kinoleinwände der Nation zum vibrieren. Vier Jahre später legt Jakob Lass mit Tiger Girl nach. Diesmal hatte er ein Budget von einer Million Euro zur Verfügung und die Constantin im Rücken. Und während das Wettbewerbsprogramm der diesjährigen Berlinale von vielen als einschläfernd empfunden wurde, sorgte Tiger Girl für eine hoch energetische Eröffnung der Panorama-Sektion des Bären-Festivals.
Tiger Girl beginnt damit, dass Maggie (Maria Dragus) beim Bockspringen auf die Nase knallt. Damit ist ihre Polizeiausbildung zunächst einmal gelaufen. Bis sie in einem halben Jahr einen erneuten Versuch starten kann, beginnt sie deshalb eine Ausbildung bei einer Security-Firma. Und irgendwie läuft Maggie immer wieder die durchgeknallte Punkgöre Tiger (Ella Rumpf) über den Weg. Gleich bei ihrer ersten Begegnung tritt Tiger einer ignoranten Alten den Rückspiegel des dicken Autos weg. Die von Tiger auf den Namen Vanilla getaufte Maggie lernt schnell und haut einem sie belästigenden Kerl einen Baseballschläger an den Kopf. Im Nu befinden sich Vanilla und Tiger auf einem anarchischen Abzocker- und Verwüstungstripp, bei dem nicht einmal hohe Kunst heilig ist.
Tiger Girl zeichnet sich aus durch eine gelungene Vereinigung von Spontaneität und Stilisierung. Die Kamera von Timon Schäppi, der zuvor bereits Jakob Lass Love Steaks ins Bild setzte, ist stets nah an den Akteuren dran. Und die Protagonisten sind hier wirklich Akteure im ursprünglichen Wortsinne: Von Anbeginn an setzt Lass nicht nur auf maximale Action, sondern auch die Figuren definieren sich über ihre Aktionen, ihre Handlungen. Tiger Girl ist stets ganz gegenwärtig. Was Maggie, Tiger und die anderen vor dem gezeigten Geschehen getan haben mögen? Wir wissen es nicht. Es ist auch vollkommen egal. Was hier zählt, ist einzig der Augenblick. Wenn überhaupt irgendwohin, richtet sich der Blick der Figuren stets nach vorne. Maggie wandelt sich zu Vanilla, macht eine innere Entwicklung durch – und wird dabei irgendwann sogar Tiger zu krass.
Auch Jakob Lass hat eine Entwicklung von Love Steaks zu Tiger Girl gemacht. Während das Liebesdrama noch voll auf die Unmittelbarkeit und den No-Budget-Charme, der mittlerweile als German Mumbelcore hipp gewordenen jungen deutschen Filmbewegung setzte, zeugt Tiger Girl von einem deutlich stärkeren Stilisierungswillen, vermengt das Actiondrama den ungefilterten Realismus des Vorgängers mit stark märchenhaften Elementen. Bereits die stark übersättigten Farben geben dem Film etwas comicartiges. Es würde den Zuschauer nicht überraschen, wenn die flotten Sprüche hier zwischenzeitlich in Form von Sprechblasen im Bild erscheinen würden – und wenn dies auch noch von aufdringlich gezeichneten Lautmalereien im Stil von »Zack!«, »Bäng!« und »Popbängboouumm!« begleitet würde.
Tiger Girl ist somit nicht nur hoch energetisch, sondern zudem von einer äußerst angenehmen Frische und Lässigkeit gekennzeichnet. Eine großartige Message sucht man hier vergeblich. Jakob Lass beweist mit diesem Film den Mut, ein Werk auf die große Leinwand zu bringen, das bewusst einseitig und amoralisch ist, das somit wirklich Ecken und Kanten hat. All diese Eigenschaften vermisst man im deutschen Kino allzu oft. Und leider hält auch Jakob Lass dies nicht über die gesamte Laufzeit von Tiger Girl durch. Der Film beginnt so rasant, dass es kaum wundert, dass das Tempo zwischenzeitlich deutlich absinkt und der Film ein wenig unentschlossen hin und her zu schlingern beginnt, bevor Lass gegen Ende noch einmal tüchtig auf die Tube drückt. Allerdings zeigt Tiger Girl ganz zum Schluss – statt des mit breitem Grinsen präsentierten Fuck-Fingers – doch noch einmal den mahnend erhobenen Zeigefinger. Das hätte nicht sein müssen.
Tiger Girl ist nicht makellos und auch nicht die Neuerfindung des deutschen Films. Unterm Strich besitzt das respektlose emanzipatorische Haudrauf-Drama jedoch eine Frische und eine Frechheit, die man hierzulande gerne häufiger sehen würde.
Eine Bedrohungssituation wie sie viele junge Mädchen kennen: Allein in der U-Bahnhaltestelle, plötzlich werden ein paar Jungs ganz mutig. Aber Tiger Girl, der zweite Film des Berliner Regisseurs Jakob Lass, der mit Love Steaks, einem improvisierten, sehr naturalistischen Drama um zwei Durchschnittsmenschen an der Ostsee, von einigen gleich zur neuen Hoffnung des deutschen Kinos hochgeschrieben wurde, dieser Film ist alles andere als realistisches Kino. Und darum erinnert auch der Ausweg aus besagter Bedrängung eher an Italo-Western und Kung-Fu-Filme.
Mädchen setzen sich zur Wehr. Mit Schlagkraft und kessen Worten, die die wohlgesetzten Hiebe ergänzen. Das mag zum Teil die Männerphantasie eines allzu jung gebliebenen Regisseur sein, aber derart viele Klischees ergeben schon wieder Sinn: Es trifft auch den Geist einer Zeit, in dem Frauen einerseits ein anderes, neues Selbstbewusstsein entwickeln und gleiche Ansprüche eine Selbstverständlichkeit werden, in dem aber auch neue Ungleichheit droht, ein Rückfall in alte Muster,
die in manchen noch gar nicht vergangen sind – Stichwort ungleiche Bezahlung für gleiche Arbeit.
Es trifft ein Deutschland, in dem »Gender« und »gerechte Sprache« zum Talkshow- und Wahlkampfthema werden, die von den Machtverhältnissen und dem Politischen mehr ablenken, als dass sie sie auch nur tangieren. Ein Deutschland, dessen Filmszene weit mehr über Frauenquoten debattiert, als über ästhetische Maßstäbe und Filmkunst.
Manchmal möchte man, beziehungsweise Frau eben auch gern einfach zuschlagen – und wie vermeintlich die Männer dies tun, Stärke körperlich definieren. Diese Hoffnung auf die sozial schöpferische Kraft des Zuschlagens und der körperlichen Gewalt, verwandelt Tiger Girl nun in ein zeitgemäßes urbanes Märchen. Er knöpft damit an die Großstadtfilme der Zwanziger Jahre an, die von Menschen und einer ganzen Gesellschaft erzählen, die immer in Bewegung sind, und in denen die Metropole selbst zum Akteur wird. Wie einst sind die Lichter der Großstadt hier vor allem die Neonlichter der Nacht.
Im Zentrum stehen »Tiger« und »Vanilla«, zwei ungleiche Girls, die sich treffen, sich anfreunden, gegenseitig zu Coaches des eigenen Lebens werden und als Neo-Punker eine Weile das Spießer-Mainstream-Deutschland unsicher machen.
Vieles ist behauptet in diesem Film, eine Menge ganz schön dick aufgetragen und übertrieben. Aber das wissen der Film und seine Macher vermutlich genau. Realistisch ist Tiger Girl gerade in seiner Haltung, die bloße Realität zu überschreiten. In dem Wunsch, aus dem Korsett des Naturalismus, der Bravheit, des Belegbaren auszubrechen, in dem der deutsche Film sich selbst eingesperrt hat.
Wenn das deutsche Kino nicht in der Gegenwart seiner sozialpartnerschaftlichen Ästhetik ersticken, sondern wieder irgendwann so gut sein will, wie es mal war, bleiben zwei Möglichkeiten: Mythologie – also Reise in die Vergangenheit. Oder Revolution – also Aufbruch in die Zukunft. Jakob Lass versucht mit seinem Film den zweiten Weg, und dafür ist ihm aller Erfolg zu wünschen.
Zudem ist Tiger Girl handwerklich auf einem Niveau, das viele
Kollegen gar nicht erst erreichen – auch weil es ihnen nicht erlaubt wird. Denn dieser Film ist auch insofern repräsentativ für den Zustand des deutschen Films, als dass die Freiheit von den Ketten vermeintlicher Zukunftserwartungen nur einem Filmemacher zugestanden wird, der bereits Erfolg hatte. Wenn ein Debütant experimentieren will, wird ihm das selten erlaubt.
Aber Widersprüche sind normal im Filmland BRD. Es gibt auch andere: Vor Jahren schrieb Jakob Lass mit anderen das »Fogma«-Manifest, ein Manifest, das der etablierten deutschen Filmförderung den Kampf ansagt – und ausgerechnet mit dem konservativsten und fettesten Vertreter eben dieses fördergemästeten deutschen Film-Establishments, mit der Münchner Constantin-Film, hat Lass jetzt für das vergleichsweise kleine, im Kontext aber enorme Budget von einer Million Euro seinen zweiten Film gedreht.
Zugleich muss man ehrlich sein: Tiger Girl ist keineswegs komplett gelungen. Insgesamt macht die Story nicht viel Sinn, außer dass irgendwie aus Spiel Ernst wird, und vor allem gegen Ende verliert der Film auch den eigenen losen Faden, kann seine ganzen Ideen nicht schlüssig zu Ende führen. Aber Ideen hat er immerhin!
Das Beste an diesem Film sind die Auftritte der Hauptdarstellerinnen Ella Rumpf und Maria Dragus. Glänzend funktioniert Tiger Girl auch in seinem – zugegeben nicht ganz neuen – Bild unserer Gegenwart als einer von privaten Sicherheitsdiensten und anderen Effizienzsklaven mit faschistoiden Ritualen gelenkten verwalteten Welt und allgemeiner Depression. Da hilft nur Spaßguerilla!
»Höflichkeit ist auch Gewalt. Es ist eine Gewalt gegen dich!« – Sehr gut ist auch, dass der Film den Mut hat, sich der unbequemen Wahrheit zu stellen, dass Gewalt sehr wohl manchmal eine Lösung sein kann – wenigstens für den Augenblick. Frauen sind hier nicht besser als Männer, sondern wie diese durch die Lust an der Selbstermächtigung verführbare Tiere.
Ob das alles am Ende wirklich viel Sinn macht, vor allem auch zur Lösung der Frauenfragen – ist natürlich eher unwahrscheinlich. Aber gegen Schläger in der U-Bahn helfen Schläge. Und so funktioniert Tiger Girl nicht nur als Versuch eines neuen Lola rennt, und als gutgelaunter Feelgood-Film. Sondern auch als Mängelanzeige: Wir sehen hier, was dem übrigen deutschen Kino fehlt: Jugendwahn gibt es zwar genug im deutschen Film, aber Überschuss und Anti-Effizienz erlebt man kaum.