USA 1997 · 194 min. · FSK: ab 12 Regie: James Cameron Drehbuch: James Cameron Kamera: Russell Carpenter Darsteller: Leonardo Di Caprio, Kate Winslet, Kathy Bates u.a. |
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Titanic – jetzt auch in Sepia |
Schiffbruch am Eisberg des Films, bei dem 90% unter der Oberfläche liegen.
Fragmente eines Texts treiben daher.
»The reflection has changed a bit«: Eines der vom Meeresgrund geborgenen Relikte, vermeintlich nebensächlich, eher zufällig aufgesammelt bei der Suche nach dem Schatz, ist ein Handspiegel. Teilnahmslos und neutral spiegelt er wider, was ihm vorgehalten wird. Doch in der Hand der ursprünglichen Besitzerin trifft die momentan Reflektion auf Reflexion, auf Erinnerungsbilder. Zwischen beidem tut sich eine Kluft auf.
Zuvor, ganz am Anfang stehen die vermeintlich objektivsten Abbildungsapparaturen: Radar und ferngesteuerte Unterwasserkameras liefern Material für die Karte zur wissenschaftlichen und kommerziellen Auskundschaftung des Wracks. Aus gesammelten Daten wird mit kalter Präzision der Ablauf des Unglücks als Computersimulation rekonstruiert. Der Zweck bestimmt die Mittel: Was ausgeblendet wird, ist das Menschliche. »I never got it,« sagt der Schatzsucher am Ende. Jahrelang hat er sich mit der Mechanik des Untergangs beschäftigt. »Wie mag sich das alles angefühlt haben?« – diese Frage war ihm unwichtig.
Nun wird er konfrontiert mit dem Gegenstück: Dem gänzlich Subjektiven von Roses Erzählung, die auf Erfahrung beruht und sich aus Erinnerung speist, von Gefühlen ge-, von der Zeit verfärbt.
Keine Abbildung kann alles erfassen. Alles zeigt nur Ausschnitte, überbetont den einen Aspekt, verdrängt den anderen. Der Film ist – auf einem Spektrum zwischen hochtechnisierten, »realistischen« Verfahren und den Traumbildern reiner Fantasie – voll und voll mit solchen Versuchen, (sich) Bilder zu machen, Bilder bleibend zu machen. Höchstens zusammengenommen ergeben sie eine Ahnung des Ganzen.
Es gibt nicht nur die wissenschaftlichen Bildgebungsverfahren. Es gibt die dokumentarischen wie die inszenierten (oder die inszenierten dokumentarischen) Bilder von Reporter- und Fernsehkameras, die privaten Portraits und Schnappschüsse. Es gibt die Baupläne, Blaupausen des Schiffs – Vor-Bilder, Wirklichkeit gewordene Visionen. Es gibt die bewusste künstlerische Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit in Gemälden (»Picasso something...«) und Zeichnungen. Und schließlich eben die Bilder von Erinnerung und reiner Fantasie.
Kein Zufall, dass jener Moment, den der Film explizit als seinen erotischsten benennt, ein Moment des Bildermachens ist – das Erfassen, nicht das Anfassen ist das intim Berührende.
(Mit einem harten Schnitt reißt uns der Film aus diesem Moment. Und hält uns als Publikum einen Spiegel vor in Gestalt von Roses gebannt und gierig lauschenden Zuhörern.)
Was heißt es, die Dinge mit Abstand zu betrachten? Jedenfalls nicht einfach, dass sie klarer werden. Sie werden anders. Manches wird deutlicher, manches verschwimmt. »The reflection has changed a bit«, in der Tat.
Immer wieder hat sich die filmischen Darstellungen des Untergangs der Titanic im Lauf der Filmgeschichte geändert, angepasst an den momentanen Stand der Ermittlungen. Und auch die Rekonstrukion in James Camerons Film wurde inzwischen widerlegt. Der Prozess des Bildermachens steht nie still. Das Verlangen, das Objekt immer vollständiger zu erfassen und das bereits Eingefangene greifbarer zu machen treibt noch immer voran.
Der Film selbst geriet wieder in diesen Sog. Der Glaube an einen auch cineastischen Fortschritt durch Technik, an größere Wahrhaftigkeit durch zusätzliche Räumlichkeit, hat ihn wieder auf Dock gebracht und in 3D erneut vom Stapel laufen lassen. Die Ergriffenheit durch den Film war aber auch ohne das Mehr an Greifbarkeit nicht geringer.
Nur von Jack gibt es kein Bild. Er ist, im wahrsten Sinne des Wortes, undokumentiert. Der Film liefert ausdrücklich eine Erklärung, warum sein Name historisch nicht verbürgt, seine Existenz nicht nachweisbar sein kann.
Und öffnet somit zwischen den Fakten einen Raum für die Fiktion.
Ein Film für Türliebhaber: Türen, Pforten, Gitter, Aufzugtüren, Schotten jeglicher Art werden ebenso bewusst eingesetzt und sind ähnlich allgegenwärtig wie Methoden der Abbildung.
Wo sich anfangs der Forschungsroboter fast gewalttätig seinen Weg durch einen zu engen Türrahmen im Wrack bahnen muss, öffnet uns in der Welt von Roses Erinnerung ein freundlicher Steward mit großer Geste die Tür zu dieser Szenerie.
Das Schiff spiegelt den Aufbau dieser Welt wider. Zwischen den Sphären darf es keinen unkontrollierten Übergang geben. Diese Welt gibt sich undurchlässig.
Aber diese Phantasie von Sicherheit durch wasserdichte Abschottung erweist sich als Illusion, die letztlich zum Untergang beiträgt.
Jack und Rose sind füreinander nicht zuletzt Türöffner: Sie verschaffen einander Zugang zu bisher für sie abgeriegelten Teilen der Welt. Für eine Weile erscheint es ihnen, als könnten sie willkürlich zwischen den ihnen zugeteilten Räumen wechseln. Die Barrieren der gesellschaftlichen Konvention wirken für sie in beide Richtungen durchlässig geworden, Jack erobert sich die Sympathien beim First Class Dinner genauso, wie die schuhlos tanzenden Rose die Anerkennung der ausgelassen feiernden irischen Auswanderer.
Bis ihnen eine verschlossene Gittertür zwischen den Passagierklassen auf der Flucht vor dem steigenden Wasser fast den Tod bringt. Aber schließlich ist es ausgerechnet eine herausgerissene, auf dem Wasser treibende Tür, die Rose das Leben rettet.
Die Tragödie hat viele Gesichter: Das kleine irische Mädchen, das mit Jack tanzt, auf der Flucht aus der dritten Klasse von seiner Mutter vertröstet wird, später Cal als Vorwand dient, sich ins Rettungsboot zu schmuggeln. Der Pfarrer, der in diesem finsteren Tal an seinem Glauben festzuhalten versucht – vor einer kleinen, todgeweihten Gemeinde, die sich nicht nur an seinen Worten, sondern buchstäblich an ihn festklammert. Der Offizier, der die tobende Menge gerade noch im Schach der Zivilisiertheit hält – mit einem Revolver, dessen Trommel leer ist. Die blondgelockte Frau, die mit Fabrizio flirtet und am Ende vor Roses Augen unter ihr in den Tod stürtzt.
Von allen gibt es nur ein, zwei Momentaufnahme – aber man spürt die unzähligen Geschichten dahinter, mit denen Titanic bevölkert ist. Jedes dieser Schlaglichter macht über sich selbst hinaus einen Bogen auf.
Es sind Nacherzählungen von Überliefertem genauso wie frei Erfundenes. Und in gewisser Weise dient die Hauptfigur des Films in Wirklichkeit all diesen Geschichten, nicht umgekehrt. Ihr Weg führt uns bewusst als Ariadnefaden durch das gesamte Labyrinth der schwimmenden Metapher Titanic. Sie muss durch alle Räume, Klassen kommen, sie muss bis zuletzt auf dem Schiff bleiben, dass wir mit ihr den gesamten Schauplatz und das gesamte Geschehen erleben, erfassen können.
Rose ist eine Manifestation des Wissensstandes der Titanic-Forschung zum Zeitpunkt der Dreharbeiten. Roses Pfad ist das Bild, das sich ergibt, wenn man all die Puzzleteile der historischen Zeugenaussagen, Dokumente, Untersuchungsberichte zusammensetzt.
Zu den überlieferten Fakten gehört, dass die Bordkapelle bis zum bitteren Ende weitergespielt hat, dass »Nearer My God to Thee« der allerletzte Abgesang war. Der letzte Moment von Zivilisiertheit, bevor die Panik vollends das Steuer übernommen hat.
Der ergreifendste Moment des Films.
Weil er einen unweigerlich zu der zentralen Frage führt: Wie willst Du sterben? Wie sollst Du sterben? Entscheidet man sich für den Versuch eines würdevollen Tod, oder für ein schamvolles Über-Leben?
Wieviel Vorwurf kann man dem Reederreichef Ismay machen, der sich für Letzteres entscheidet? Und der sich unter den verurteilenden Blicken eines Offiziers von seinem sinkenden Schiff in ein für Frauen und Kinder bestimmtes Rettungsboot setzt.
Was sagt uns der letzte Blick nackten Entsetzens auf dem Gesicht von Mr. Guggenheim – der sich für die vermeintliche Würde entschieden hat, in seiner besten Abendgarderobe mit einem Absacker als Gentleman unterzugehen?
Selbst das Sterben kann ein Akt des Bildermachens sein: Eine Inszenierung des Erinnerungsbildes für die Nachwelt.
Und schließlich die noch entscheidendere Frage: Wie willst Du davor gelebt haben?
Es ist die Frage, mit der Rose sich schon andauernd auseinandersetzt. Am Anfang sieht sie den (Frei-)Tod als einzig möglichen Ausweg aus einem unerfüllten, fremdbestimmten Leben. Am Ende ist die Drohung des Todes für sie Verpflichtung, selbst dafür zu sorgen, dass ihr Leben für sie Bedeutung, Erfüllung, Wert erhält.
Ein Idealbild zeigt der Film, zu den letzten Tönen des Salonquartetts: Das alte Ehepaar, das sich aneinandergeschmiegt zum Sterben legt. Und bei dem man spürt, dass sie sich gemeinsam bewusst von einem zufriedenen Leben verabschieden.
Zweimal wurde das feine Porzellan der White Star Line hergestellt. Einmal diente es als Repräsentant des von der Reederei gebotenen Luxus. Einmal als nicht minder luxuriöses Zeichen für eine gigantische Filmproduktion, die Zeit, Geld und Mühe für solche vermeintlich nebensächlichen Details aufbrachte.
Beide Mal wurde das Service nur hergestellt, um zerstört zu werden. Das eine Mal durch die unvorhersehbare Katastrophe – das andere Mal bewusst nach Drehplan.
»Man muss Geld ausgeben, um Geld zu machen« ist ein altes kapitalistisches Hollywoodprinzip. Doch das seinem Gegenstand angemessen gigantische Budget von Titanic hatte darüberhinaus seine Notwendigkeit. Es ging Cameron nicht um selbstzweckhafte Schauwerte. Es ging darum, das Gefühl einer Welt von Dekadenz und Luxus wiederaufleben zu lassen, den Film damit zu durchtränken. Und der einzige Weg dazu war, diese Dekadenz und diesen Luxus zu reproduzieren.
Die Titanic und Titanic markieren beide das Ende einer Ära: Das der bedingungslos technik- und fortschrittsgläubigen Epoche vor dem Ersten Weltkrieg. Und das der Herrschaft des klassischen Hollywoodfilms.
Titanic ist der letzte wirklich große Vertreter seiner Art. Jedes Detail steht im Dienst der Geschichte. Die Arbeit jedes Produktions-Departments ordnet sich dem Versuch unter, einem möglichst kompletten Gesamtbild mit Tiefenwirkung nahe zu kommen. (Ein Grund, weswegen das – durchaus gelungene – 3D keinen entscheidenden Zugewinn bringt: Der Film war durch seine Reichhaltigkeit so schon ungemein plastisch.) Jedes Detail ist semantisiert – es ist nicht nur Dekor, sondern hat eine Bedeutung in, für die Erzählung. Es sagt etwas über die Welt, Charaktere, Handlung – und wandelt sich entsprechend der Entwicklung der Geschichte.
Wie überträgt man Emotionen mittels Bildern, mittels (Abbildungs-)Technik? Die Schnittstelle von Maschinerie und Gefühl ist ein zentrales Thema von James Cameron als Filmemacher: Seit Terminator drehen sich seine Werke immer wieder ausdrücklich darum. Aber es ist auch sein Streben als Regisseur, die Apparatur des Kinos mit all ihren Möglichkeiten zu nutzen – und ihre bisherigen Grenzen nicht nur auszuloten, sondern auszuweiten, neu zu definieren. Wir sind zurück bei der Frage nach Abbildbarkeit: Cameron ist getrieben von dem Drang, die Distanz zwischen Gegenstand und Publikum auszumerzen. Das Kino nicht zum Ort der Betrachtung zu machen, sondern zu einer »Teilhabungsmaschine«.
Und alle Witze, die man dabei über Camerons Gigantismus machen kann, hat er selbst schon selbstironisch vorweggenommen: Mit Roses Bemerkung über den Schiffsnamen »Titanic« und Freuds Ausführungen zur unterbewussten Triebkraft für männlichen Größenwahn.
Es ist ja nicht so, dass Roses Mutter es schlecht mit ihr meint. Sie schnürt sie ja nicht aus Bosheit besonders eng. Rose soll einfach Haltung bewahren: Ihr Körper ist Kapital – im Verständnis der Mutter das einzige, das eine Frau hat.
Die Mutter ist altmodisch, im wahrsten Wortsinn: Wo Rose schon in ihrer Kleiderwahl den Geist einer neuen Generation verkörpert, fügt sich ihre Mutter immer noch in die Silhouette der ausgehenden Epoche. Die kostbaren, schweren Stoffe ihres Gewands sollen keine Zweifel an ihrer gefestigten gesellschaftlichen Position aufkommen lassen. Aber sie beschweren sie auch, als müsste es sie Mühe kosten, darin aufrecht zu gehen – im Gegensatz zu den leichteren, wagemutiger gefärbten Kleidern ihrer Tochter.
Und während Rose sich auch in ihrer äußerlichen Erscheinung entwickelt, ist ihre Mutter Ruth in dieser Hinsicht ebenfalls unbeweglich verankert im Vertrauten.
Sie ist nicht glücklich mit den Regeln. Aber sie kann sich andere nicht vorstellen, und sie will in dem Spiel wenigstens nicht zu den Verlierern gehören. Der Zwang kommt nicht von ihr – sie gibt ihn lediglich an ihre Tochter weiter.
Rose verliebt sich nicht einfach in Jack. Rose verliebt sich in eine Utopie: In die Möglichkeit einer anderen Zukunft. Eines anderen Selbst.
In der berühmten, ikonischen, oft parodierten Szene am Bug schaut sie nicht auf Jack. Sie schaut auf das Meer – und das, was es für sie symbolisiert: Ein Raum von Freiheit, Offenheit, Grenzenlosigkeit. Kurz vorher war sie noch bereit, ihren Körper, der nicht wirklich ihr gehört hat, buchstäblich über Bord zu schmeißen. Jetzt vergisst sie für einen Moment alles, was sie, was ihren Körper bisher vertäut und eingeschnürt hat in dieser Gesellschaft – und fliegt.
Erst dann dreht sie sich um und küsst Jack – als denjenigen, der ihr das gezeigt, ermöglicht hat. Der sie soweit gebracht hat.
Titanic, ausgerechnet, ist genau nicht ein Film, in dem die Protagonistin ihre Erfüllung, das Ziel, den Sinn, Zweck ihres Lebens in einem und an der Seite eines Mannes findet.
Wozu Jack ihr den Mut gibt, ist endlich wirklich die Liebe zu sich selbst ernst zu nehmen. Nicht sich den Verhältnissen anzupassen, unterzuordnen. Sondern ihr Leben als Abenteuer zu begreifen, dessen Regeln sie selbst mitbestimmen kann.
Was aber den Untergang ihrer gewohnten Welt voraussetzt. Sie muss sich von Grund auf neu erfinden, sich finden. Für die Menschen, die ihr bisheriges Leben geprägt haben, muss sie sterben. Aus Rose DeWitt Bukater (ein Name amerikanischen Adels) wird Rose Dawson (ein Name aus der demokratischen Masse).
Ihr Schwur gegenüber dem sterbenden Jack, nicht loszulassen, meint nicht einen Treueschwur unsterblicher Liebe: Woran sie festhalten soll, ist ihr Leben, die Verwirklichung der Utopie.
Die Nachttisch-Fotogalerie am Bett der alten Rose zeigt: Sie hat Wort gehalten. Sie hat nicht nur überlebt, sondern gelebt. Sie hat all die Dinge getan, die ihrer Mutter noch für eine Frau unmöglich erschienen sind. Und sie hat offenbar auch noch einmal die Liebe gefunden, hat eine eigene Familie gegründet. Aber das ist nicht der Punkt, auf den der Film sie reduziert.
Titanic ist ein Liebesfilm. Über die Liebe zum Leben. Und zum Kino als Lebensabenteuer.
Anna Edelmann & Thomas Willmann
Die Outtakes:
Nicht verwendete Formulierungen. Seien Sie dankbar.
(Deutschen Schlagersängern steht die Verwendung als Album- oder Songtitel frei.)
»Eine Truhe voller Augenblicke«
»Woge des Schmerzes«
»Worauf das Licht fällt«
»Die Romantisierung der Kluft« (und »Romantische Aromen«)
»Geschichten aus der Geschichte«
»Das Labyrinth der menschlichen Tragödien«
»Mein Asien von gestern«
»Schreib nie wieder von der Kluft«
»Traumbilder der reinen Fantasie«