USA 2007 · 117 min. · FSK: ab 16 Regie: Sidney Lumet Drehbuch: Kelly Masterson Kamera: Ron Fortunato Darsteller: Philip Seymour Hoffman, Ethan Hawke, Albert Finney, Marisa Tomei, Rosemary Harris u.a. |
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Ungleiche Brüder: Philip Seymour Hoffman und Ethan Hawke |
Es beginnt mit Sex und endet mit dem Tod. Altmeister Sidney Lumet hat einen Film gedreht, der weit mehr ist, als ein Alterswerk: An Stanley Kubricks The Killing muss man durch die Machart denken, in der hier alles wie bei einem Uhrwerk ineinandergreift, das – einmal in Gang gesetzt – nicht mehr zu stoppen ist. Aber auch antike Tragödien kommen einem durch die Familienkonstellation in den Sinn, wie zugleich die Bibel: Denn Brüderhass, ödipale Dramen, fehlschlagende Erlösungssucht und alle sieben Todsünden stehen im Zentrum dieses Werks, das das Zeug hat zu einem amerikanischen Klassiker – und doch ungemein in unsere Zeit passt.
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Philip Seymour Hoffman und Marisa Tomei im Bett; er sieht sich beim Sex an im Spiegel, geilt sich auf, aber mehr an sich selbst, als an der Frau mit der er gerade schläft. Ein trostloses Bild. Dann, beim postkoitalen Gespräch dieses schon auf den ersten Blick ungleichen Ehepaares, dreht es sich, wie noch oft in diesem Film, ums Geld. Auch um Waffen wird es bald gehen – Geld und Waffen hängen im Kino, dem amerikanischen zumal, gern zusammen –, und um diesen Blödsinn, dass in Amerika alle, selbst die freundlichsten alten Damen, irgendwo eine Schublade haben, in der irgendeine geladene Pistole herumliegt. Und warum müssen sie die dann auch noch herausnehmen und mit ihr in der Gegend herumballern, wenn sie überfallen werden? Ohne diesen Moment wäre vielleicht alles anders verlaufen. Der Überfall wäre gelungen, die Jungs hätten ihr Geld, und die Versicherung hätte gezahlt. Hätte, hätte Tödliche Entscheidung ist kein Film im Konjunktiv. Sondern ein kühler Film über kalte Fakten.
Die schönste der vielen großartigen Szenen dieses durch und durch großartigen Thrillers zeigt etwa in der Mitte des Films ein Appartement. Der Besitzer, ein irgendwie geschlechts- und altersloser Jüngling mit den Zügen eines 16-Jährigen, ist, wie wir gleich erfahren, Drogendealer, der ausschließlich reiche Kunden in New York City beliefert. Seine Gäste an der Tür empfängt er zur Sicherheit mit einer ziemlich schweren Pistole in der Hand. Der Mann, der soeben geklingelt hat, ist in der Krise, das sähe man ihm auch dann an, wenn wir Zuschauer es nicht sowieso schon wüssten. Philip Seymour Hoffman spielt ihn so atemberaubend wie er fast alles spielt, aber hier wird er vom Drehort noch in den Schatten gestellt. Denn das Appartement, von dem hier die Rede ist, ist in irgendeinem Hochhausstockwerk mit blendender Aussicht gelegen und vor allem rot und weiß eingerichtet, mit lackierten Luxusmöbeln, die Fenster reichen von der Decke bis zum Boden, im Fernsehen läuft irgendein Comicfilm, und die Kamera streichelt über all das zärtlich hinweg und nimmt sich jede Zeit der Welt, es uns zu zeigen. Wir sehen Hoffman mit seiner allzu weißen Haut, seinen strähnigen Haaren und noch verschwitzter aussehend als sonst, wie er an der Fensterfassade entlang in einen der hinteren Räume geht, sich einen Drink mixt und dann das Hemd auszieht. Er legt sich aufs Bett, erschöpft, erleichtert, und lässt sich von dem Jüngling einen Schuss Heroin setzen. Die Musik, die im Hintergrund läuft, ist wunderbar. Ein fabelhafter Augenblick voll perfekter Dekadenz. »My life« klagt er, und diesen Dialog kann man nicht übersetzen, »it doesn’t add up. Nothing connects with anything else. All of my parts don’t add up.« – »Get a shrink or a wife.« – »Oh, I got a wife.«
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Tödliche Entscheidung wie dieser Film mit der üblichen germanischen Sensibilität auf Deutsch betitelt ist, handelt von einer amerikanischen Familie. Die Eltern betreiben einen Juweliersshop. Sohn Andy (Hoffman) verdient sechsstellig und hat eine hübsche Frau (Marisa Tomei). Sein jüngerer und dümmerer Bruder Hank (Ethan Hawke) ist der Loser der Familie, ein geschiedener Trinker und Spieler, der es nicht schafft, den Unterhalt für seine Tochter zusammenzukratzen. Was wir Zuschauer allerdings bald auch noch erfahren: Hank hat eine Affäre mit Andys Frau. Und Andy ist heroinsüchtig und hat, um seinen Stoff zu bezahlen, in der Firma Geld unterschlagen. Darum überredet er Hank – wider bessere Ahnung, sollte man meinen – zu einem Raubüberfall. So weit, so schlecht. Nur dass der Überfall auch noch dem Juweliershop der eigenen Eltern gilt
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Before the Devil Knows You're Dead, wie der Film ungleich besser im Original heißt, ist atemberaubend gutes Kino. Er handelt von einer Höllenfahrt, und seine Figuren sind sämtlich schon von Anfang an Verdammte. Regisseur Sidney Lumet gibt sich auch gar keine Mühe, das zu verschleiern: Durch Vor- und Rückblenden, durch das Zeigen des gleichen Vorgangs aus unterschiedlichen Perspektiven seziert er gewissermaßen die Handlung. Trotzdem enthüllt jede Szene etwas Neues und verändert den Blick auf die Dinge. Tödliche Entscheidung ist ein Meisterwerk, auch weil es bis in kleinere Nebenrollen – eben wie erwähnt die wunderbare Marisa Tomei, der hervorragende Albert Finney als Vater der beiden Unglücksraben – perfekt besetzt und gespielt ist.
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Im Zentrum ein Brüderpaar, ineinander verschlungen in Hassliebe und ewiger Konkurrenz, in einem sadomasochistischen Clinch. Systematisch hat der sadistische ältere Bruder den jüngeren offenbar schon früher terrorisiert, zugleich beneidet. Der jüngere rächt sich, indem er ist wie er ist: schwach, unfähig. Prekäre Verhältnisse aus Freiheit und Abhängigkeit. Der Film fragt, was das für Leute sind, mit denen wir ein Leben lang auskommen müssen.
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Was nun den 84-jährigen Sidney Lumet angeht: Zuerst wundert man sich ja, dass der Mann überhaupt noch da ist, schließlich hat er schon in den 40er-Jahren als Regisseur fürs Fernsehen gearbeitet. Sein legendäres Filmdebüt Twelve Angry Men (Die 12 Geschworenen) drehte er immerhin schon vor über 50 Jahren, und
als er mit dem Korruptionsdrama Serpico und den Medienthrillern Dog Day Afternoon (Hundstage) und Network zum Helden des linksliberalen New Hollywood-Kinos wurde, war er schon nicht mehr jung. Aber warum soll man mit bald 84 nicht auch noch Filme drehen?
Unerwartet und erstaunlich nur: Dass Lumet hier nach über 40 Kinofilmen und über 200 Fernseharbeiten (!) eines seiner besten Werke
überhaupt gelungen ist. Wie die Coen-Brüder in No Country for Old Men zeigt er Amerika als Land der Gewalt, als Ort aller sieben Todsünden.
Tödliche Entscheidung ist fatalistisch, aber auch durchzogen von Neugier auf die Bedingungen der Möglichkeit von Unmoral und Verbrechen. Von seiner Grundstimung her ist der Film »Post 9/11«, ein genauso präzises und explizit politisches Portrait der USA im fünften Kriegsjahr, wie all die Filme, die schon an ihrer Oberfläche von Politik handeln. Das Bild Amerikas könnte erschütternder nicht sein als in dieser boshaften Spirale in den Abgrund. Aussichten gibt es keine. Das Thema heißt Kontrollverlust. »When we try to control everything, everything winds up controlling us. Nothing is what it seems«, hat Lumet mal geschrieben – bezogen aufs Filmemachen, aber es gilt ebenso für seine Figuren, die in jeder Hinsicht, auch moralisch, ihre Kontrolle eingebüßt haben.
Von Kontrollverlust ist in der Machart allerdings nichts zu spüren: Wie in einem Uhrwerk greift formal ein Rad in das nächste. Lumets Kamera steht immer richtig, konzentriert und souverän. Lumet beleuchtet seine Geschichte aus verschiedenen Blickwinkeln, springt in der Chronologie vor- und zurück. Das Ergebnis dieses zeitlichen Patchworks ist eine Männergeschichte, in der die weiblichen Charaktere, Frauen, Ex-Frauen, Freundinnen und andere immer nur damit beschäftigt sind, Männer zu beschützen, die dies nicht verdienen. Es ist allerdings, darüber lässt der Filme keine Zweifel, auch nicht schön, ein Mann zu sein in Amerika.
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Noch einmal erzählt Lumet die alte Amerika-Story von den Vätern und den Söhnen, von Macht und Verrat, Mord und Gier. Und am Ende, wie das eben in Hollywood so ist, siegen die Väter über die Söhne. Irgendwie. Tödliche Entscheidung handelt von dem blöden Durchschnittsleben, das wir alle führen, eine wunderschöne, todtraurige Geschichte. Oder, wie es im Film einmal heißt: »The world is an evil place. And some of us make money out of it.«