Tödliches Kommando

The Hurt Locker

USA 2008 · 131 min. · FSK: ab 16
Regie: Kathryn Bigelow
Drehbuch:
Kamera: Barry Ackroyd
Darsteller: Jeremy Renner, Anthony Mackie, Guy Pearce, Ralph Fiennes u.a.
Bereit für den nächsten Schuss

In Adrenalingewittern

Es gibt viele heftige Momente in The Hurt Locker. Aber den herbsten Stich, den größten Schock, versetzt einem nicht etwa eine der nicht mehr recht­zeitig verhin­derten Bomben­ex­plo­sionen. Den versetzt einem wohl der schlichte Anblick eines Super­markt­re­gals mit unzäh­ligen Sorten Frühs­tücks­flocken.
Aber dazu später.

Man weiß, wie Kriegs­filme für gewöhn­lich funk­tio­nieren. The Hurt Locker funk­tio­niert anders. Er ist kein Kriegs­film – und erst recht nichts so simples wie ein »Anti­kriegs­film«. Kathryn Bigelows neuestes (und womöglich größtes) Meis­ter­werk ist ein Film über Krieg, und es ist Kino als Kriegs­er­lebnis.
Er erfüllt nicht die üblichen Muster: Es gibt hier keine eine große Mission zu erledigen (oder zu verlieren) – nichts, was einem erken­nen­baren stra­te­gi­schem Ziel gleichen würde außer dem bloßen Überleben. Es gibt in diesem Film nicht eine Schlacht – das Näheste, was er in dieser Hinsicht zu bieten hat, ist ein langes Scharf­schützen-Duell zwischen einer Handvoll in der Wüste versprengter Männer. Man hat nie das Gefühl, dass sich etwas bewegen würde in diesem Krieg, dass es irgend­welche Siege zu erringen gäbe. Es gibt nur eine Abfolge von einer Scheiß­si­tua­tion nach der anderen.
Denn The Hurt Locker folgt unge­wöhn­li­cher­weise keiner Gefechts- oder wenigs­tens Sanitäts­ein­heit – sondern einem Trupp von Bomben­ent­schär­fern im Irak. Es ist eine Einheit, deren Erfolge nicht in erobertem Terri­to­rium oder getöteten Körpern gemessen werden können; eine Einheit, die stets nur reagiert und nie weiß, ob, wann und wo sie zum Einsatz kommt. Im Genre-Kontext ist das nochmal eine Drehung weiter als bei Jarhead, dessen Pointe war, dass sein Prot­ago­nist nie dazu kommt, einen Schuss abzu­feuern. Die Männer aus The Hurt Lockersollen sogar aktiv genau das verhin­dern, was seit jeher zur cine­as­ti­schen Exis­tenz­be­rech­ti­gung der filmi­schen Kriegs­dar­stel­lung gehört: Die Explo­sionen. (Freilich wäre es kein Kathryn Bigelow-Film, wenn ihnen das konse­quent gelingen würde.)

Die Wahl dieser unge­wöhn­li­chen Prot­ago­nisten und damit ihres unge­wöhn­li­chen Blick­win­kels auf den (Irak-)Krieg ist der grund­le­gende Genie­streich von The Hurt Locker, der ihm erlaubt, auch anderen alten Para­digmen des Leinwand-Kriegs zu entkommen.
Bigelow geht es nicht darum, etwas Vorfor­mu­liertes zum Krieg zu sagen, eine Meinung dazu heraus­zu­po­saunen. Sie will ihn zuerst einmal beob­achten. Für The Hurt Locker ist der Krieg ein Handlungs-Raum, der den darin befind­li­chen Männern ein Verhalten, ein Leben (wie man’s nimmt:) aufzwingt oder ermög­licht, das radikal anders ist als das in der befrie­deten Zivi­li­sa­tion.
Es geht dem Film nicht um die Politik, die diesen Raum schafft. Es geht darum, was dieser Raum, wenn er nunmal da ist, mit den Menschen anstellt. Es steht einem frei weiter­zu­denken, was dies für die Politik bedeuten sollte. Aber das ist nicht der Punkt des Films.
(Freilich schwebt so eine Ahnung durch den Film, dass die Entschei­dungs­träger nicht integerer und mensch­li­cher werden, je höher man auf der Leiter der Verant­wor­tung blickt. So zeigt er etwa ganz en passant ein eindeu­tiges Kriegs­ver­bre­chen: »He’s not gonna make it,« sagt ein Offizier, als es darum geht, ob ein ange­schos­sener Aufstän­di­scher bis zum Eintreffen der Sanitäter durch­kommen wird. Und er sagt das nicht als Einschät­zung, sondern als Befehl.)
Der Krieg in The Hurt Locker ist weder einfach Hölle, noch Aben­teu­er­spiel­platz. Er ist eine der Männer­welten, wie sie Kahtryn Bigelow so gern und großartig erkundet. Gleich in der Eröff­nungs­szene machen die Sprüche der Soldaten klar, dass deren Tun auch den Unterton von etwas Sexuellem hat. Dass in der Gefechts­zone der Männer­körper auch eine verquere Art von Lust und Befrie­di­gung findet.
Der Film ist bewusst episo­disch struk­tu­riert; eine der wenigen über das Gesamte gespannte, drama­tur­gi­schen roten Fäden ist ein Countdown der noch verblei­benden Dienst­zeit. Und freilich gibt es Männer, die den Tag 0 als die große Erlösung herbei­sehnen. Die nur irgendwie überleben wollen, bis sie aus der ganzen Scheiße raus dürfen. Aber es gibt auch Männer wie Staff Sergeant William James, den eigent­li­chen Prot­ago­nisten von The Hurt Locker. (Großartig: Jeremy Renner, der seine Figur mit einer unglaub­li­chen Inten­sität lebendig werden lässt – und der noch keinen Star-Status hat, der sich beim Publikum über die Wahr­neh­mung dieser Figur legen würde.) James, der als Ersatz für einen gefal­lenen Vorgänger zu der Einheit kommt, ist ein Renegat in Uniform, der im Dienst eigent­lich so etwas findet wie Freiheit. Für den dieser tödliche, künst­liche, absurde Raum Krieg, den die global­po­li­ti­schen Konstel­la­tionen eröffnen, eigent­lich ein Raum zur Selbst­ver­wirk­li­chung ist.

Isoliert betrachtet wäre dieser Aspekt an The Hurt Locker nicht ganz neu – es ist nicht unüblich, dass die Prot­ago­nisten von Kriegs­filmen auf dem Schlacht­feld ihrem wahren Ich begegnen. Aber das Wie und Warum dieser Selbst­fin­dung ist bei Bigelow soviel komplexer, glaub­hafter, eindring­li­cher als jenseits der kleinen Handvoll anderer absoluter Meis­ter­werke zu diesem Thema.
Und selbst unter den Klas­si­kern von All Quiet On the Western Front bis Apoca­lypse Now muss man suchen, um einen Film zu finden, der glei­cher­maßen real und visionär ist. Der einem sowohl das Gefühl einer Reportage als auch den Rausch großen Kinos vermit­telt.
Denn The Hurt Locker hat einer­seits die Wahr­haf­tig­keit und Inten­sität einer Doku­men­ta­tion. Das liegt nicht zuletzt am Drehbuch von Mark Boal, aus dessen Feder auch In the Valley of Elah stammt. Boal ist kein Schreib­tisch­täter, er war als Reporter im Irak, er weiß aus erster Hand, wovon er schreibt. Er hat einen großen Anteil daran, dass die Welt und die Menschen des Films so glaubhaft sind. Dass die Sprache der Film­fi­guren in jedem Moment authen­tisch wirkt, sie nie bloße Papier­sätze aufsagen. (Was die Synchro daraus machen wird, möchte man wirklich nicht wissen. Vor allem ange­sichts der jeder Beschrei­bung spot­tenden Unsäg­lich­keit des hiesigen Verleih­ti­tels: Nicht nur klingt das nichts­sa­gende Tödliches Kommando so, als ob schon mindes­tens 17 andere Filme auf Deutsch so hießen – sondern auch, als ob mindes­tens 10 davon mit Steven Seagal wären. Und die anderen mit Michael Dudikoff...)
Diese Wahr­haf­tig­keit ist auch deswegen essen­tiell, weil sie verhin­dert, dass The Hurt Locker zu einem jener Kriegs­filme wird, die insgeheim den Krieg als Ort der wahren Mann­wer­dung feiern. Bigelow verliert nie aus dem Sinn, dass dieser Raum des Krieges an realen Orten geschaffen werden muss, mit realen Konse­quenzen für reale Menschen, die ihre Selbst­ver­wirk­li­chung ganz wo anders sähen. The Hurt Locker vermit­telt großartig ein Gefühl dafür, dass der Kriegs­schau­platz der US-Soldaten zugleich die Alltags­welt der Iraker ist. Zwar verlässt der Film nie seine Prot­ago­nisten und deren Blick­winkel. Aber am Rande hat er ein waches Auge für die Schnitt­stelle zwischen der ganz normalen Stadt und den Einsatz­orten. Was nicht zuletzt daran liegt, dass der Film in Jordanien gedreht wurde. Dass er in diesen Momenten bewusst das Aufein­an­der­treffen von realer arabi­scher Welt und Hollywood-Filmset jenseits der fiktio­nalen Ebene doku­men­tiert. Die Leute, die da halb neugierig, halb skeptisch von den Balkonen schauen, sind großteils keine gecas­teten Statisten.

Ande­rer­seits aber war seit Jahren kein Action­film mehr auch nur annähernd so aufregend, wie es The Hurt Locker ist. Denn das wirklich Geniale, Großar­tige, Über­wäl­ti­gende an Bigelows Film ist, dass er nichts von alldem, was er über Krieg zu sagen hat, bloß doziert. Sondern dass er es seinem Publikum auf einer geradezu körper­li­chen Ebene erfahrbar macht. Dass er aus jeder Pore Emotion verströmt.
Der Film ist ein einziges Bad in Adrenalin und Testo­steron.
Es gibt in ihm keine Szene, die einen nicht bei den Eiern (respek­tive: Eier­stö­cken) und an der Gurgel packt. Selbst die Momente zwischen den Einsätzen, wo das Abklingen des Highs und das Dröhnen der ange­spannten Lange­weile mit Alkohol, Rauferein, Heavy Metal und Video­spielen übertönt wird, sind groß. Selbst die Verschnauf­pausen sind inten­siver als die Action-Höhe­punkte sämt­li­cher Sommer-Block­buster, und man empfängt sie im Kino­sessel mit ähnlich zittriger Erschöp­fung wie die Soldaten, die nach dem über­stan­denen Scharf­schüt­zen­duell in der Abend­sonne gierig gegen den Post-Adre­na­lin­schub-Unter­zu­cker an ihren Frucht­saft­beu­teln saugen, das Auge nie vom Ziel­fern­rohr nehmend, nie sich wirklich in Sicher­heit fühlend, immer harrend auf den nächsten Angriff.
The Hurt Locker ist einer der ganz seltenen Fälle, wo Emotion und Intellekt eins sind, und beides extrem stark. Wo das Kino – das noch nie wirklich ein Medium des Nach­den­kens und des Argu­men­tie­rens war – nicht seine unüber­trof­fene Fähigkeit zur Mani­pu­la­tion des Gefühls nutzt, um einem eine beliebige, abstrakte »Botschaft« auf dessen Wellen mit unter­zu­schmug­geln. Sondern wo wirklich die konkrete Emotion das Argument ist. Wo der Weg zur Erkenntnis über die konkrete Erfahrung führt.
Denn sehr bald kommt man bei The Hurt Locker selbst in die paranoide Wahr­neh­mung der Soldaten, die ständig binnen kürzester Zeit entscheiden müssen, wer Freund, wer Feind, wer nur ein aufdring­li­cher Passant und wer ein getarnter Aufstän­di­scher ist. Wer Hilfe benötigt, und wer das nur vortäuscht, um einen in die Falle zu locken. Ohne, dass es eindeutig lesbare Zeichen für das eine oder das andere gäbe. Immer mit dem Wissen im Kopf, dass jede Fehl­ent­schei­dung Leben kostet – das eigene, oder das Unschul­diger.
Und immer mit dem Wissen, dass der wahre Kampf ja auch nicht der gegen die Bomben sein sollte, sondern der um die »hearts and minds« der Zivil­be­völ­ke­rung. »If he wasn’t an insurgent, he sure is now,« sagt James einmal: Die sicherste Methode, weitere Aufstän­di­sche zu produ­zieren, ist, unschul­digen Zivi­listen die Knarre an den Kopf zu halten.

Aber so unmöglich und krass die Situation der Soldaten ist: Sie hat, in aller Wirrnis des konkreten Moments, doch auch eine große Klarheit. Es steht eben immer alles auf dem Spiel. Es gibt keine kleinen Einsätze. Diese Männer sind, wie man im Poker sagen würde, immer »all in«.
»War is a drug« heißt es ganz zu Beginn des Films. Und The Hurt Locker macht einem das wirklich nach­voll­ziehbar. Man versteht, warum manche dieser Männer süchtig werden nach diesem absurden Raum, nach diesem dauernden Adre­na­lin­kick. Nach diesem ständigen Alles oder Nichts, ohne verwir­rende Nuancen dazwi­schen.
Womit wir endlich wieder bei dem anfangs zitierten Super­markt­regal wären: Nach Ableis­tung seines Diensts kommt William James nach Hause, zu Frau und Kind. Und muss nun nicht mehr Bomben entschärfen, sondern Dach­rinnen säubern, den Kleinen ins Bett bringen. Und da steht er also dann vor dem Regal mit den Dutzenden Sorten Frühs­tücks­flocken. Und es ist dieses eine, geniale, wortlose Bild, das einem wie ein Hammer die unüber­brück­bare Distanz klarmacht zwischen der Welt des Krieges – die James' Welt geworden ist – und diesem ameri­ka­ni­schen Zivil­alltag. Wer gewohnt ist, andauernd Entschei­dungen auf Leben und Tod zu treffen, der kann nicht mehr entscheiden zwischen 30 Sorten Corn­flakes. Der wird nie wieder zurück­finden in eine Existenz, die nichts Exis­ten­zi­el­leres als solche Wahl­mög­lich­keiten mehr kennt.
The Hurt Locker ist, wie gesagt, keines­wegs etwas so Simples wie ein »Anti­kriegs­film«. Dafür ist sein Blick auf den Krieg zu offen und neugierig, zu wenig vorein­ge­nommen, zu komplex. Es geht ihm nicht um ein Für oder Wider. Es geht ihm um ein klares Erkennen dessen, was ist – und was das für Konse­quenzen hat.
The Hurt Locker zeigt nur: Man kann sich für den Krieg entscheiden. Oder für die Zivil­li­sa­tion. Aber nicht für die Illusion, dass beides vereinbar wäre.