USA 2012 · 118 min. · FSK: ab 12 Regie: Len Wiseman Drehbuch: Kurt Wimmer, Mark Bomback Kamera: Paul Cameron Darsteller: Colin Farrell, Kate Beckinsale, Bryan Cranston, Jessica Biel, Bill Nighy u.a. |
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Erinnerungen an die Zukunft |
Wo sind wir gerade? Wie sind wir nur hierher gekommen? Und wie, zum Teufel, kommen wir bloß irgendwie hier raus? Das sind die Fragen um die es uns allen heute geht, und der, der sie stellt, Philip K. Dick, war mehr als ein Schriftsteller, er war ein Philosoph im Gewand eines Künstlers, dessen Werke seit Jahrzehnten alles begriffliche und visuelle Handwerkszeug bieten, um unsere Welt zu analysieren und zu verstehen. Len Wisemans Remake des von einer Dick-Shortstory inspirierten Total Recall ist ein mehr als solider, gut funktionierender Sommer-Blockbuster mit großartigem Production Design, effektiver Pyrotechnik und latent monotoner Narration. Trotzdem liegt der tiefere Sinn dieses Remakes außerhalb seiner selbst – darin, dass er den Blick auf Verhoevens erste Verfilmung lenkt, auf das Werk Dicks und vor allem auf die Fragen, die mit Total
Recall einhergehen.
Zum Beispiel die, ob Verhoevens Werk gerade mit Absicht komplett aus dem kollektiven Gedächtnis getilgt werden soll?
Und ob Barak Obama vielleicht ja doch ein kubanischer Geheimagent ist, der das nur selber noch nichts über seine eigentliche Identität weiß?
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Wie wäre es, wenn man Erinnerungen einkaufen könnte? Wenn diese falschen Erinnerungen geächtet wären wie Drogen, weil sie ähnlich gefährlich sind, wenn sie dafür aber – eben wie Drogen – auf dem Schwarzmarkt gehandelt würden? Und wenn man für besonders schöne, verführerische Erinnerungen in eine Art Erinnerungsbordell gehen könnte, wo man Erlebnisse nach Maß kaufen und sich als frei gewählte Vergangenheit ins Hirn einpflanzen lassen könnte? Auf solchen paradoxen Überlegungen basiert »Erinnerungen en gros« (»We Can Remember It for You Wholesale«) von 1966, eine Kurzgeschichte des legendären Science-Fiction-Autors Philip K. Dick (der auch zu Blade Runner, Minority Report und vielen anderen großartigen SF-Kinostoffen die Vorlage geliefert hatte), die so faszinierend ist, dass sie jetzt bereits zum zweiten Mal unter dem Titel Total Recall fürs Kino verfilmt wurde.
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Wir befinden uns im Jahr 2084 – im Jahr 100 nach Orwell. Die postdemokratische Welt der Zukunft ist dystopisch und zweigeteilt: Dort die reiche »United Federation of Britain«, ein England ohne Königin, dafür regiert vom autoritären Kanzler Cohaagen (Bryan Cranston), der äußerlich ein wenig an den früheren Tory-Verteidigungsminister und Thatcher-Dissidenten Michael Heseltine (»Tarzan«) erinnert und eine SF-Auflage der »Volk ohne Raum«-Ideologie vertritt, gemischt mit Rassismus. Im Grunde ist diese »United Federation of Britain« ein »Euroamerika«. Hier auf der anderen Seite der Erde, »die Kolonien«, eine Art Megalopolis, die aussieht wie Shanghai, wo der Widerstand gärt. Da leben die niederen Klassen, und fahren des Morgens mit der S-Bahn in 17 Minuten durch den Erdkern zum Schuften ins Empire – inklusive Gravitationswechsel beim Passieren des Erdmittelpunkts. Einer von ihnen ist Douglas Quaid (Colin Farrell),der einfache Angestellte einer Fabrik, in der Roboter-Polizisten und -Soldaten hergestellt werden. Nachts träumt er schlecht, unter anderem davon, ein Detektiv und Superspion zu sein, und eines Tages entschließt er sich, sich diesen Traum einmal in virtueller Form zu erfüllen – troltz Warnungen seiner Arbeitskollegen sucht er ein Entablissement der Firma »Rekall« auf, die mit dem Slogan wirbt: »Willkommen bei Rekall, der Firma, die Ihre Träume in echte Erinnerungen verwandeln kann.«
Kaum hat er mit diesem »Mindfuck«-Abenteuer begonnen, stellt sich sein Leben auf den Kopf: Echte Häscher sind ihm plötzlich auf den Fersen, seiner Frau (Kate Beckinsale als Mischung aus Terminator und Catwoman) scheint er nicht mehr trauen zu können, sich selbst allerdings auch nicht – dafür tauchen andere hübsche Frauen-Wesen an seiner Seite auf, die ihm erzählen, er sei eigentlich ein ganz anderer. Ist dass alles am Ende selbst nur ein böser Traum? Quiad wird in einen Strudel zunehmenden epistemologischen Zweifels hineingerissen.
Verhoevens Werk soll komplett aus dem kollektiven Gedächtnis getilgt werden
Paul Verhoevens Total Recall aus dem Jahr 1990 ist ein moderner Klassiker. Er war ein bahnbrechendes Werk, der letzte komplett analog, ohne Computer produzierte Science-Fiction-Film, und nicht nur ein großer Blockbustererfolg, einer der besten Filme von Actionstar Arnold Schwarzenegger und die erste A-Rolle für Sharon Stone, er war auch einer der frühesten »Cyberfilme«, der knapp zehn Jahre vor Matrix, Die Truman Show, eXistenZ und anderen die Wirklichkeit der Wirklichkeit infrage stellte, den tief in der Menschennatur verankerten Zweifel bebilderte, ob wir die Welt in der wir leben, womöglich nur träumen? Verhoevens Film war zugleich auch eine überaus kritische Auseinandersetzung mit seiner zweiten Heimat Amerika.
Offensichtlich ist sie derart kritisch, dass man das derzeitige Hollywood-SF-Kino auch als ein Unternehmen verstehen könnte, Verhoevens Werk komplett aus dem kollektiven Gedächtnis zu tilgen, es durch Remakes zu überschreiben. Denn gleich noch zwei Verhoeven-Remakes kommen im nächsten Jahr ins Kino: 2013 folgt Robocop durch José Padilha und dann bald darauf der von Sony geplante Starship Troopers. Es ist in der Wirklichkeit also genau wie in Total Recall: Eine erste Erinnerung wird durch eine zweite bis zur Unkenntlichkeit überschrieben. Aber vielleicht wird, auch wie in Total Recall, die erste eigentliche Erinnerung sich gegen die zweite durchsetzen.
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Len Wiseman (Underworld, Stirb langsam 4.0) knüpft an Verhoeven an. Mit der Vorlage geht er ähnlich frei um, wie sein Vorgänger, mit dem Unterschied, dass diesmal alles auf der Erde spielt: Der Mars als Ort der Kolonien und Phantasien hat einstweilen ausgedient. Die Erde, auf der nun alles spielt, sieht
dafür aus, wie der Mars, genau gesagt wie ein einziges Riesenfilmstudio, in dem die Kulissen aus Blade Runner (für die Kolonien) und The Fifth Element (für die Oberwelt der »United Federation of Britain«) nebeneinander aufgestellt wurden.
Auch Wiseman nutzt die Vorlage klug, um eine ganz irdische Geschichte zu
erzählen, die die Zukunftsvision dazu nutzt, um gefährliche Tendenzen der Gegenwart zu kritisieren: Dass Hollywood gegen Überwachungsphantasien uns Feld zieht, gegen Sicherheitswahn und vor dem totalitären Staat warnt, ist mittlerweile nichts Neues mehr.
Dafür hat Wiseman ein Interesse an Begriffen. Und sein Film ist eine Reflexion über Redefinitionen: Die »freie Welt« ist eigentlich die unfreie, die »Terroristen« sind Rebellen, Quaid heißt eigentlich Carl Hauser.
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Wissen wir, wer wir wirklich sind? Diese Frage Quaids besitzt, sobald sie ins Politische gewendet wird, mehr Sprengkraft als das übliche Gerede eines Selbstverwirklichungs-Workshops in Berlin-Mitte. »False-memory syndrome« nennt man in der Medizin den krankhaften Zustand, in dem sich der Patient an Dinge »erinnert«, die nie stattgefunden haben.
Die USA als Ganze befinden sich nämlich in einer ähnlichen Position wie Quaid: Sie sind unsicher in Bezug auf nahezu alle Aspekte ihrer eigenen Vergangenheit, unsicher darüber, wo sie gerade stehen und wo es hingeht.
Vielleicht ist US-Präsident Obama ja doch ein gefährlicher kubanischer Geheimagent, der seine wahre Natur ähnlich wie Quaid selbst noch nicht kennt, in seiner zweiten Amtszeit aber zum Zerstörer des guten wahren weißen Amerika durch Steuererhöhungen, Einführung von Sozialsystemen und andere krypto-kommunistische Umtriebe werden wird, zu einer Art nordamerikanischem Hugo Chavez.
Der Unterschied zwischen beiden Filmen liegt zum einen einfach im Temperament: Verhoeven glaubte an gar nichts, Wiseman glaubt zumindest ans Action-Kino: In der zweiten Hälfte ist dieses Remake eine einzige Verfolgungsjagd, im Prinzip Bewegung pur: Wie Maschinengewehrkugeln schießen die Körper durch den Raum, und Wisemans Qualität ist, dass alles »echt«, erdenschwer und nie »getrickst« aussieht: Wiseman macht »analoges« Old-School-Kino. Und tatsächlich ist das meiste hier real gedreht, die Körper- und Fahrzeugbewegungen daher plausibel.
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Zugleich ist Wisemans Version braver, weniger doppelbödig und skeptisch, als die Verhoevens. Ernster und darum bemüht, jede Art aktueller politischer Bezüge tunlichst zu neutralisieren. Auch wenn in dem Film so hübsche Sätze fallen, wie »eine Illusion bleibt eine Illusion – egal, wie echt sie erscheint.« konterkariert sie der Film, indem er die Doppelbödigkeit der Verhoeven-Version vereindeutigt: Ort der Handlung ist nicht mehr der Kopf des Helden; wir zweifeln nie, daran dass Quaid das, was wir sehen, wirklich erlebt, halten es nie für möglich, dass er alles bloß träumen könnte – dass er tatsächlich ein beschränktes Muskelpaket sein könnte, der, wie wir gerade im Kino, eine Prise Eskapismus schnupft.
Farell kann bei allem Respekt in seiner Wirkung auch nicht mit Schwarzenegger mithalten. Kate Beckinsale und Jessica Biel liegen dagegen mit Sharon Stone auf Augenhöhe.
Das alles ist also schön und unterhaltsam anzusehen, und logische Brüche fallen nicht auf, weil alles schnell weitergeht. Ob man diesen Film wirklich braucht, oder ob wir ihn in zehn Jahren bereits vergessen haben, ist eine andere Frage. Vielleicht kaufen wir bald alle Erinnerungen an die gute alte Schwarzenegger-Zeit, die aus heutiger Sicht leider auch Erinnerungen an eine bessere (Kino-)Zukunft sind.