Deutschland 2011 · 86 min. · FSK: ab 12 Regie: Jessica Krummacher Drehbuch: Jessica Krummacher Kamera: Björn Siepmann Darsteller: Marina Frenk, Natja Brunckhorst, Benno Ifland, Alissa Wilms, Cedric Koch u.a. |
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Poesie der Nicht-Orte |
Was macht diese junge Frau bei einer solch unangenehmen Familie? Diese Frage stellt man sich schon am Anfang der Vorführung von Totem und kann sie im Laufe des ganzen Films nicht loswerden. Fast immer schweigend, abgeschieden, mit einem Blick ins Nichts – Fiona taucht gleich einem Geist in der Familie Bauer auf. Man weiß nicht woher sie kommt und wohin sie geht. Die formale Ursache ihres Erscheinens stellt sich allerdings ziemlich bald heraus: Fiona wird als Haushaltshilfe in Dienst genommen. Dass hier ihre Hilfe gebraucht wird, bezeugen ein Haufen vom dreckigen Geschirr in der Küche und das ab und zu zum Ausdruck kommende Bedürfnis ihrer Arbeitgeber nach leichter Tyrannei. Der wahre Grund des Eintreffens dieser jungen Frau im Haus der Familie Bauer bleibt jedoch bis zum Ende des Films ein Geheimnis. Bei dem Versuch in dieses Geheimnis einzudringen kommt der Zuschauer zu der schockierenden Entdeckung, dass die auf der Leinwand so seltsam und unattraktiv vorgestellte Familie, in der Fiona das »Glück« zu arbeiten hat, tatsächlich vor allem erschreckend gewöhnlich ist. Diese Bauers könnten auch im Haus gegenüber, hinter unserer Wand wohnen oder sie haben sich sogar schon seit langem in unserem eigenen Heim bequem niedergelassen. Die Regisseurin Jessica Krummacher verdüstert mit Absicht die Bilder des »normalen« Lebens, um uns damit ihre beunruhigende Wahrnehmung des »Heute« und insbesondere der »Gesellschaft von Heute« zu vermitteln.
Totem ist ihr Spielfilmdebüt, mit dem die Münchner Filmhochschul-Absolventin direkt zu internationalen Festivals eingeladen wurde; seine Premiere erlebte der Film bei den Filmfestspielen von Venedig. Die Dreharbeiten fanden in Bochum statt und obwohl Krummacher in ihrem Film einen Nicht-Ort schaffen wollte, trägt die spezielle Ruhrgebiet-Atmosphäre, mit ihrem gewissen Charme der Verlassenheit und der Leere, zur besonderen Wirkung von TOTEM bei. Das Thema der Banalität und Plattheit des Lebens, das wir schon aus der Literatur kennen, etwa aus den Erzählungen Tschechows, erhält bei Krummacher eine außerordentlich unansehnliche Gestalt: Die Realität erscheint schlampig, ungepflegt und einfach abstoßend. Das meisterhafte Schauspiel erlaubt dem Zuschauer, die schreiende Einsamkeit dieser Welt zu spüren, in der ein Mensch nicht fähig ist, den anderen zu hören und zu verstehen.
Fiona, die aus einem unerklärlichen Grund in diese Familie kommt und nicht weggeht, die Eltern, bei denen jeder auf seine Weise mit dem Leben unzufrieden ist, die Tochter, die jede Gelegenheit nutzt, sich aus dem Haus zu ihrem mindestens doppelt so alten Freund davonzumachen, und der kleine Sohn, mit dem keiner außer Fiona spielt – jeder Protagonist lebt in seinem eigenen Vakuum und kann sich nicht davon losreißen. Fast jede Szene in Totem besitzt eine gewisse Ästhetik der Unvollendung, sie bricht dann ab, als der Zuschauer anfängt zu denken, hier gäbe es endlich Hoffnung. Die Wärme wandelt sich in Aggressivität und Gewalt, die kleinste Anspielung auf Freude und Liebe wird schnellstmöglich durch Plattheit ersetzt.
In einer der finalen Szenen tanzt Fiona mit der Familienmutter. Man hört schwermütige, aber gleichzeitig aufregende Musik, die gleiche, die die junge Frau gespielt hatte, als sie gerade im Haus der Bauers erschien. Es scheint so, dass die Kamera endlich ein harmonisches Bild gefunden hat: Lichterfüllte Küche, zwei Menschen, die den Tanz genießen. Doch diese Einheit wird plötzlich durch das Auftauchen eines Skorpions gestört, eines Symbols des Todes, der aus irgendeinem Grund absolut ruhig und unbemerkbar durch den Raum geht. Man hat das Gefühl, als ob Krummacher den Zuschauer stets auf das Problem der Hoffnungs- und Ausweglosigkeit zurückweist. In ihrem Film kommt die Regisseurin zur Schlussfolgerung, dass ihre Protagonistin keine Zukunft hat – »Hat es einen Sinn heute aufzustehen?« – und parallelisiert Fiona, diese Einzelne, die fast wie ein Geist in der Familie auftaucht, und dem Menschen überhaupt, der in diese Welt kommt und dazu verdammt ist, in ihr zu leben.