Mexiko/DK/F 2023 · 95 min. · FSK: ab 6 Regie: Lila Avilés Drehbuch: Lila Avilés Kamera: Diego Tenorio Darsteller: Naíma Sentíes, Montserrat Marañon, Marisol Gasé, Saori Gurza, Teresita Sánchez u.a. |
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Der Wunsch nach ewigem Sonnenschein... | ||
(Foto: Piffl Medien) |
Ein Tag in einer mexikanischen Großfamilie. Im weitläufigen Haus mit großem Garten finden die Vorbereitungen für ein Fest statt. Es wird gekocht, geputzt und gegessen, Geister werden ausgetrieben, Familienmitglieder und Freunde treffen ein.
Mittendrin die siebenjährige Sol, deren größter Wunsch es ist, endlich ihren Vater Tona wiederzusehen, für den die Feier ausgerichtet wird. Aber sie ahnt es mehr als sie es weiß: Er ist todkrank, und dieser Geburtstag wird sein
letzter sein. Die Feier ist ein Ausnahmezustand, in dem das normale Leben weitergeht.
Dieser junge Maler Tona heißt eigentlich Tonatiuh, ein Name, der in dieser Mythologie für den Gott des Feuers, der Sonne, steht. Die Idee des Vaters als Herrscher und Organisator der Welt, als Lebensspender, als Erleuchter, gewinnt an Kraft aus all dem, was diese Figur erweckt.
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Der mexikanische Film Tótem, die zweite Arbeit von Lila Avilés nach La camarista (2018), verbindet Familiengeschichte und Kinderperspektive. Avilés zeigt eine Familie, die mit einem großen Geburtstagsfest Abschied nimmt von einem jungen Vater, Bruder, Sohn, weil der bald sterben wird. Wir Zuschauer aber erfahren das erst nach einer Weile,
denn wir nehmen das alles wahr mit den Augen eines Kindes, des Kindes, das seinen Vater verlieren wird. Wir erleben es mit seinen ganzen Vorbereitungen.
Das könnte leicht in Rührseligkeit und Kitsch münden, aber es gelingt gerade durch diese Erzählperspektive erstaunlich gut.
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Der Film zeigt das große Gegenteil des bei diesem Thema Erwartbaren. Es ist nämlich ein humorvoller Film; nicht zuletzt durch die Kinder – und es gibt eine ganze Menge Kinder in diesem Film. teilweise pubertierende Heranwachsende, teilweise ganz kleine Kinder, fünf- oder sechsjährige, die zu dieser Familie aus drei Generationen gehören.
Am Anfang kapiert man die einzelnen Verwandtschaftsverhältnisse in dieser Großfamilie noch nicht richtig, und man weiß auch noch
nicht, wer hier Angehöriger und wer Dienstpersonal ist. Denn alles geht ineinander über, wie im Leben, wie in den Filmen des großen Robert Altman.
Es sind in etwa 20 Figuren, die wir hier näher kennenlernen.
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Alles ist erzählt aus der Perspektive eines jungen Mädchens. Die ist ein bisschen die Hauptfigur und vielleicht auch die Identifikationsfigur für die Regisseurin.
Zunächst ist es auch nicht völlig klar, dass der Vater sterben wird. Zumindest eine Weile lang bekommt man nur mit: Der Vater möchte die Tochter nicht sehen, und man begreift, dass seine Krankheit schwer ist. Aber die Details kennt man nicht. Es ist alles mehr zu ahnen, als dass es wirklich ausgesprochen
wird.
Vieles bewegt sich im Ungefähr, in einem Zwischenraum, der vielleicht gerade der originäre Raum des Kinos ist.
Genau das lässt die Möglichkeit, dass wir Zuschauer selber diesen Raum füllen und etwas hineinprojizieren, dass wir auch unsere Perspektiven wechseln. Man weiß nicht genau, worauf das alles zuläuft. Aber es hat immer trotz des ernsten Subtextes, zu dem auch Geldsorgen und ein paar andere Sachen hinzukommen, etwas unglaublich Leichtes.
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Tiere spielen eine große Rolle. Eine Schlange, ein Skorpion, ein Papagei, ein Hund, die Insekten – alle sind selbstverständlich.
Tiere sind nun auch Symbole. Aus einer Reihe von Symbolen, die auf der Mythologie verschiedener Indiostämme basieren, konstruiert Lila Avilés eine Geschichte über die Beständigkeit des Lebens und den Kampf gegen seine Auslöschung.
Darum muss man auch noch auf den Titel eingehen, denn man denkt hier ja auch an Sigmund Freuds Buch »Totem und Tabu«. Der Großvater in dieser Familie ist tatsächlich Psychoanalytiker; er sieht auch schon ein bisschen aus wie Papa Freud, und dieser Bezug macht natürlich auch nochmal klar: das Private ist politisch, die Familie hier ist politisch.
Die Art, wie Menschen untereinander agieren, ist politisch. Politisch ist es oft nämlich gerade nicht, wenn im Kino irgendwelche Manifeste vorgelesen werden, irgendwelche politischen Flaggen geschwenkt werden oder Transparente vorgeführt – das ist, glaube ich, ein sehr plattes Verständnis von Politik, dem schon Jean Luc Godard widersprochen hat: Nicht politische Filme machen, sondern politisch Filme machen. Ein Film ist zum Beispiel nicht schon politisch, weil er aus der Ukraine kommt oder von ihr handelt. Und dann wäre auch noch die Frage: Was ist denn das für eine Politik? Das eigentlich Politische ist ja das, was uns irritiert, provoziert, was uns zum Nachdenken bringt, was uns aufrüttelt. Nicht das, was uns in unseren oft verengten Sichtweisen bestätigt.
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Es wird in diesem Film dauernd gegessen und gekocht und gebacken. Es wird zubereitet. Die Kinder – man kann es gar nicht anders sagen – machen auch viel Quatsch miteinander und mit den Erwachsenen, sie benehmen sich nicht, sie gehen einem zwischendurch auch richtig auf die Nerven – man ist also als Zuschauer Teil der Familie mit allen Gefühlen.
Man muss auch nicht immer alles süß und nett finden, man kann trauern und auch lachen, und dies ist auch deswegen ganz
großartig, weil es eben alles eine Inszenierungsleistung ist – das darf man nie vergessen: Es ist keine Familie; es sind Schauspieler, auch sechsjährige Schauspieler, denen dann von der Regisseurin gesagt wird, was sie spielen sollen. Das ist eine wahnsinnige Leistung dieser jungen Filmemacherin.
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Man erlebt eine wunderbar funktionierende Familie, gerade weil sie nicht immer funktioniert. Zugleich geht es auch um soziale Konflikte, aber der Film verlässt den unmittelbaren Raum des unmittelbar Politischen, Gesellschaftlichen und verlagert seine Themen auf das Feld des Persönlichen. Es wird gezankt und sich versöhnt, man erlebt die gewisse abgestumpfte Vertrautheit der Routine einer Familie.
Avilés zeigt das Chaos und den Alltag des Lebens, sie zeigt aber auch den
Ausnahmezustand von alltäglichen Verhältnissen, in denen eine ganze Familie versucht, den Sohn zu retten.
Geldnot und Psychoanalyse, Kinderperspektive und Elternliebe sind nur einige der vielen Themen, die in diesem Film eine Rolle spielen, und ab und zu wie in einer Art Solo in den Vordergrund gerückt werden, um dann wieder zurückzutreten, und zugleich aber doch latent präsent zu bleiben.
So ist Tótem nicht einfach ein Film über den Blick eines kleinen Mädchens auf ihren rekonvaleszenten Vater an einem Geburtstag oder über die beste Geburtstagsparty der Welt, sondern ein Werk über Kameradschaft, den nahen Tod und die Sehnsucht nach dem Unsterblichen. Die Aufnahme der Tochter, die verhindert, dass die Kerzen auf der Torte ihres Vaters ausgeblasen werden, fasst diesen Widerstand gegen das Vergängliche sensibel und klug zusammen. Der Wunsch
nach ewigem Sonnenschein.
Ein wunderbarer Film!