Japan 2014 · 116 min. · FSK: ab 16 Regie: Sion Sono Drehbuch: Sion Sono Kamera: Daisuke Sôma Darsteller: Ryôhei Suzuki, Young Dais, Nana Seino, Yôsuke Kubozuka, Akihiro Kitamura u.a. |
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Befreiungsschlag der jüngeren Generation |
Nachdem Sion Sono mit seinem Fukushima-Drama The Land of Hope ungewöhnlich ernste Töne anschlug, wandelte er in Why Don’t You Play in Hell? bereits wieder auf seinen angestammten blutig-abstrusen Filmpfaden, die eine wahre Fülle an Überraschungen und Skurrilitäten am Wegesrand bereithalten. Die Regiearbeiten des japanischen Enfant terrible sind tosende Knallbonbons voller exzentrisch-kinetischer Energie mit Einfällen am Rande des guten Geschmacks und auch in seinem ungestümen J-Rap-Musical Tokyo Tribe, bleibt Sono seinem berüchtigten Spiel mit irren Ideen und wilden Popkultur-Zitaten treu und inszeniert eine brachiale Hip-Hop-Oper mit Tokyo street credibility.
Sono führt in sein von 23 verschiedenen Tribes beherrschtes, dystopisches Tokyo mittels einer elaborierten fünfminütigen Plansequenz ein, die bereits klarstellt, auf was sich der Zuschauer in der bunt-schmutzigen Graffitiwelt, durch welche ein MC (Shota Sometani) als Erzähler führt, einzulassen hat: Schlägereinen und Übersexualisierung, aber auch die treibende Dynamik der Beats & Rhymes der Rap-Musik machen die irre Inszenierung des von Kampfgeschehen dominierten Hip-Hop-Musicals aus. Dabei wurden sowohl bekannte Vertreter des japanischen Sprechgesangs als auch Teilnehmern eines offenen YouTube-Castings für die zahlreichen Rap-Rollen gecastet, um den verschiedenen Tribes jeweils einen individuellen Rap-Stil verleihen zu können.
Wer ist hier potenter, stärker und skrupelloser? – Im sinnlosen Kampf der Gangs, dem extremen Sexismus und der überbordenden Brutalität zelebriert Tokyo Tribe beständig Männlichkeitsrituale und -beweise. So persifliert Sono mit den sich um Macht, Gewalt und Sex drehenden Songtexten sowie Handlungssträngen die sich immerzu wiederholenden tumben Machothemen des Rap-Business. Während die meisten Tribes brutal-kriegerische Tendenzen an den Tag legen, fällt die Saru-Gang aus dem Stadtteil Musashino mit ihrer Love und Peace-Attitüde extrem aus dem exzentrischen Tribe-Rahmen heraus. Eine weitere besondere Stellung kommt auch der mächtigen Bukuro Wu-Ronz-Gang zu, die vom sadistischen Buppa (Riki Takeuchi) befehligt wird, der gern junge Frauen verspeist und bei jeder Bewegung Münzgeräusche von sich gibt. Als dessen muskelbepackter Leutnant Mera (Ryuhei Suzuki) den allseits geachteten Anführer der Saru-Gruppe umbringt, verbünden sich die verfeindeten Tribes unter der Führung des jungen Kai (Young Dais), um gegen den tyrannischen Buppa, den Takeuchi mit einem extremem Grimassenrepertoire verkörpert, anzukommen. Und dann gibt es noch die kampfkunsterprobte Sunmi (Nana Seino), die sich als Tochter eines dubiosen Hohenpriesters in Tokyo versteckt hält und eher zufällig zwischen die Tribe-Fronten gerät.
Die Realverfilmung der erfolgreichen »Tokyo Tribe2«- Manga-Serie von Santa Inoue erinnert mit ihrer, in einem kunterbunten, höchst artifiziellen Neo-Tokyo spielenden Bandenkriegsstory an einen Mix aus West Side Story meets Akira mit einem Schuss A Clockwork Orange. Die zahlreichen Kampfsequenzen und extrem übertriebenen Figuren rufen hingegen Assoziationen zu japanischen Beat ’em up-Videospielserien á la »Street Fighter« oder »Dead or Alive« hervor. Über das wilde Zitatenpotpourri, das augenzwinkernd die Remix- und Sample-Kultur des Hip-Hop widerspiegelt, macht sich der Regisseur dann auch selbst lustig, wenn er im Kampfgetümmel eine Morgenstern schwingende Frau im Uma-Thurman-Jumpsuit von ihrem Gegner auf den Kill Bill-Einfluss ansprechen lässt und diese ihrem Widersacher dann nur kühl auf Bruce Lee und damit Game of Death verweist. Dass bei all den abstrusen Vorkommnissen die eigentliche Story ins Hintertreffen gerät und auch keine der zahlreichen Figuren etwas mehr Tiefe verliehen bekommt, nimmt der Regisseur unterdessen billigend in Kauf, setzt er doch auf einen sich im Zuge des Rap-Flows immer schneller drehenden Chaosreigen. Nicht Stringenz und Perfektion, sondern Exzess und Spektakel sind von Relevanz.
Irgendwo zwischen hohlem Trash und tollkühn-überdrehter Groteske erzählt Sono aber auch die Geschichte einer gegen korrupte Strukturen und willkürliche Machtausübung rebellierenden Jugend. Ein genauso hedonistisches Gesellschaftsbild Japans zeichnend wie sein Regiekollege Tetsuya Nakashima in seinem unbeugsamen Drama The World of Kanako, hofft Sono noch auf eine bessere Zukunft und einen möglichen Befreiungsschlag der jüngeren Generation. Denn während die japanische Jugend in Nakashimas letzten beiden Filmen als moralisch verroht gezeichnet wurde, hält Sono, wie schon in seinem postapokalyptisch anmutenden Werk Himizu, auch in seinem grell-vulgären Rap-Exzess Tokyo Tribe weiterhin an dem Glauben der Heilung der Gesellschaft durch die nachfolgende Generation fest.
Es ist eine schlechthin bewundernswerte Szene, mit der Sono Sion seinen neuen Film beginnen lässt, und sie allein wäre Grund genug, diesen Film anzusehen. Eine einzige, sehr lange Kamerafahrt bildet den Anfang. Sie folgt zweien der zukünftigen Hauptfiguren durch eine nächtlich belebte Straße, führt sie zusammen und wieder auseinander und präsentiert in den vier bis fünf Minuten, die sie dauert, das Tokioter Stadtviertel Bukuro und seine Menschen. Es ist Nacht, Neonlichter erleuchten die Szenerie und geben ihr einen bewusst künstlichen, leicht billigen Glanz. Dann setzt Regen ein, plötzlich und stark, eben wie aus einer Regenmaschine.
Schon dieser klassische »Establishing Shot«, mit dem Kameramann Daisuke Soma von einer Höhe aus einen Panoramablick gestattet, und dann mit bestimmten Figuren, ihren Weg verfolgend, in die Szenerie eindringt, sie vorführt und vorstellt, zitiert wie die ganze Einführung vor allem das Hollywoodkino seiner großen Zeit, der des Studiosystems der vierziger und fünfziger Jahre. Und dieses Kino, besonders seine berühmten Musicals, stehen für den ganzen Film Pate: In seiner sehr bewussten Künstlichkeit, seiner Stilisiertheit, seinen Ritualen. Sions Film spielt offen mit der Studio- und Technicolor-Ästhetik von The Wizard of Oz bis One from the Heart, der er seinen Look entlehnt. Von Anfang an ist hier alles »bigger than life«.
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Dies sollte man also keinesfalls – das signalisieren bereits die ersten Minuten voller Selbstironie – allzu ernst nehmen, dies ist ein großer Spaß, sowohl für die unschuldigen Augen des westlichen Publikums als auch für die Kenner der reichen japanischen Hip-Hop-Szene.
Hip-Hop auf Japanisch. Der Sprechgesang verortet sich sogleich in Shibuya, einem Tokioter Stadtteil. So wie alle anderen Personen, die in den ersten Minuten von Tokyo
Tribe auftreten: Etwa die »Gira Gira Girls« aus dem Vergnügungsviertel Kabuchiko.
Mit Filmen wie dem vierstündigen Liebesepos Love Exposure, der vor Jahren auf der Berlinale mehrere Preise gewann, ist der japanische Regisseur Sono Sion zu einem der Kino-Meister seines Landes geworden. Sion steht für bildkräftiges, immer riskantes Kino, für einen Stil, der sich nie wiederholt,
sondern neue Dinge ausprobiert. So auch diesmal. Denn mit seinem neuen Film Tokyo Tribe hat Sion nichts weniger unternommen, als das erste Hip-Hop-Musical der Welt zu schreiben, eine Mischung aus Hollywood-Klassiker und Gangsta-Rap. Sie ist perfekt gelungen.
Denn wieder einmal ist der neue Film von Sono Sion überraschend, wieder einmal alle Maßstäbe sprengend, und mehr denn je ist klar: Sono Sion ist der zur Zeit spannendste, weil innovativste Regisseur
des großen Kinolandes Japan.
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Dies ist eine East Side Story über rivalisierenden Gangster-Banden, über Straßenkriminalität, Spielhöllen, Bordelle, Nachtclubs und über diverse Musikszenen und ihre Stilrichtungen. Es dominiert dabei der Hip Hop, und man könnte den ganzen Film als die Visualisierung eines Hip-Hop-Songs verstehen, als eine Bild-Entfaltung, die dessen Inhalte weitgehend wörtlich nimmt.
Dies ist aber ebenso, auch das macht die erste knappe Viertelstunde des Films unmissverständlich klar, ein Tokio-Film, so, wie es sonst nur in Amerika die New-York- und die L.A.-Filme gibt. Die Stadt selbst und ihre Topographie sind das Thema und bis zu einem bestimmten Grad sogar der Hauptdarsteller des Films. Schon die Einführung stellt Shibuya, Shinjuku, Kabukicho und andere Viertel von Japans Hauptstadt vor, und charakterisiert diese durch ihre jeweiligen Musikstile. Die Topographie von Tokio, die hier sichtbar wird, ist die einer neuen Stammesgesellschaft.
Die Stämme sind die Jugend- und Musikstile, ihre Grenzen sind durch die feinen Unterschiede elektronischer Beats und der Popkultur als solcher markiert. Die Erzählung wird dabei dynamisch angetrieben vom Dauerwummern der Elektrobeats. Das ist mitunter gewöhnungsbedürftig, zugleich faszinierend in der Konsequenz, mit der Musikalität hier den Ton angibt.
Im Mix der Stile und in seinem Tempo erinnert der Film an eine wahnsinnig gewordene Music-Box. Zugleich ist Tokyo Tribe, der auf dem in Japan berühmten Manga von Santa Inoue basiert, ein Film zum Hingucken, der sich ganz der Logik der Bilder verschreibt. Die eigentliche Handlung ist gegenüber diesem Spektakel sekundär. Alles spielt in einer nahen postapokalyptischen Zukunft, in der Tokio unter zwei Dutzend rivalisierenden Banden aufgeteilt ist. Es geht um einen Yakuza-Clan, der von dem so verrückten, wie perversen Boss (Riki Takeuchi) angeführt wird, und der versucht die Alleinherrschaft in der Stadt zu übernehmen. Ein anderer, friedlicher Clan hält dagegen und am Ende schließen sich alle Gangs der Stadt mit Erfolg gegen den Aggressor zusammen.
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Am Anfang schon, im allerersten Dialog, wurden Hoffnung und Freude als Gegengift gegen Einsamkeit und »das Ende der Welt« etabliert. Und so kann man in Tokyo Tribe leicht auch tiefere Bedeutung und friedfertige Botschaften entdecken.
Nur kommt es darauf nicht an. Denn nicht um das Gute geht es hier. Im Kern ist dies ein Film über das Böse, wie immer bei Sono Sion, und dazu gehört, dass dieses Böse auch wirklich böse ist, und nicht verniedlicht, oder auch
nur mit der Rationalität schlüssiger Begründungen ausgestattet wird.
Was Tokyo Tribe aber vor allem zu einem Kunstwerk erster Ordnung, zu einem wunderbaren, spannenden, unterhaltsamen Film und einstweilen beispiellosem Kino macht, das an Harmony Korines Spring Breakers ebenso denken lässt, wie an Kubricks Clockwork Orange, ist sein Vertrauen in den Vorrang des Visuellen und sein tollkühner Verzicht auf Perfektion. Die findet Sono Sion zu recht uninteressant. Dafür ist sein Kino konsequent in der Haltung, die Essenz des Kinos im Spektakel und im Exzess zu suchen.