Frankreich/E/P 2016 · 120 min. · FSK: ab 12 Regie: Albert Serra Drehbuch: Albert Serra, Thierry Lounas Kamera: Jonathan Ricquebourg Darsteller: Jean-Pierre Léaud, Patrick d'Assumçao, Marc Susini, Bernard Belin, Irène Silvagni u.a. |
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Körper der Repräsentation & Präsenz |
Bescheidenheit gehört nicht unbedingt zu den Tugenden, die den katalanischen Regisseur Albert Serra auszeichnen. In seinen Filmen wendet er sich gerne Themen des kulturellen Erbes zu, die stark aufgeladen mit Bedeutung sind. Don Quijote, die heiligen drei Könige sowie Casanova und Graf Dracula (diese beiden im selben Film wohlgemerkt) dienten ihm bislang als Anlässe, in seinen eigenwilligen Langfilmen Honor de Cavallaria (2006), El cant dels ocells (2008) und Història de la meva mort (2013) den bald recht sinnlichen, bald recht enigmatischen Wirkungen des Imaginären im Konkreten nachzuspüren, in Körpern, in Räumen, in Dingen.
Nun hat Serra den Inbegriff der absolutistischen Monarchie als Gegenstand gewählt, den französischen König Ludwig XIV. Serra erzählt jedoch nicht von Macht und politischen Hofintrigen, sondern vom Tod des Königs, er schildert seine letzten Wochen im August des Jahres 1715.
Es scheint in jenem Jahr ein herrlicher Sommer zu sein, der Glast der Hitze liegt in der flirrenden Luft, wie man zu Beginn des Films erkennt. In dem von den durchsichtigen Titeln durchbrochenen
Schwarz der Leinwand erhascht man flüchtige Blicke auf diesen Sommer in der Natur um Versailles, als man den an einer Beinverletzung leidenden König im Rollstuhl durch den Park schiebt.
Für den Rest des Films wird sich der Sonnenkönig dann völlig in das Düster seines Schlafkabinetts zurückziehen, der Sommer wird ins Off verbannt, bleibt jedoch spürbar auf der Tonspur, im Vogelgezwitscher, im Grillenzirpen, im Donner des schweren Sommergewitters, wenn der König nachts aufwacht
und über heftige Schmerzen in seinem Bein klagt.
Die in diesen Verweisen auf den Sommer anklingende sinnliche, sinnenhafte Grundierung prägt den gesamten Film, auch in den Innenszenen, in denen der König bettlägerig ist, sich immer weniger bewegen kann. Doch jeder der wenigen Bissen, die der König noch zu sich nimmt, das mit einem winzigen Löffel verspeiste Ei, der trockene Biscottin, der sorgfältig gekaut wird, die gut gefilterte Bouillon, als er keine feste Nahrung mehr zu sich nehmen kann, die Schlucke klaren Wassers aus kristallenen Gläsern, alles wird als sinnliche Erfahrung ausgekostet. Besonders anrührend wirkt das Tätscheln und Kosen der vom König so sehr geliebten Hunde, einen Kontakt, den der Leibarzt Fagon immer seltener erlaubt.
Serra macht des Sterben des Königs als sukzessives Zurücktreten der Welt aus dem Umkreis Ludwigs sichtbar. Mit einer zeremoniellen Geste vollzieht der König ziemlich früh im Film seinen Abschied von der Hofgesellschaft, an deren Divertissements er nicht mehr teilnehmen kann. Serra zeigt dies in einer für seine Kunst der Inszenierung exemplarischen Einstellung. Der König liegt unbeweglich im Vordergrund, mit halbaufgerichtetem Oberkörper rechts am Bildrand, im Profil
leicht zum Hintergrund nach links gewandt, von wo ihn, halb verdeckt durch einen Vorhang, einige Damen des Hofes um seine weitere Teilnahme an der Abendgesellschaft bitten. Der König lässt sich von der Dienerschaft einen mit Federbusch aufwendig geschmückten Hut reichen, setzt ihn sich kurz auf, um ihn dann, sich andeutungsweise verneigend, weitausholend vor den Damen zu ziehen.
Vereinzelt werden politische und geistige Amts- und Würdenträger vorstellig, Madame de Maintenon,
die einstige Hauptgeliebte und dann, nach dem Tod der Königin, heimliche Gemahlin, beehrt den König mit ihrer stoisch gelassenen und äußerst würdevollen Anwesenheit. Dem Thronfolger, Ludwigs Urenkel, ein Kleinkind noch, lässt der König karge Empfehlungen für das Wirken als Herrscher zukommen, Worte, die eine gewisse späte Einsicht in einige Fehler seines maßlosen Regierungs- und Herrschaftsstiles erkennen lassen. Das Personal um den König beschränkt sich aber zunehmend auf den
Leibarzt Fagon, den Chirurgen Maréchal, den obersten Diener Blouin.
Als der Gesundheitszustand immer bedenklicher wird, zieht Fagon die Ärzte der Sorbonne hinzu; auch diese wissen keinen Rat, man scheut sich, den königlichen Leib mit einer Amputation, die wohl medizinisch angezeigt wäre, zu verstümmeln. Man hofft als letztes Mittel auf die zweifelhaften Künste eines Scharlatans aus Marseille, Lebrun, der ein obskures Elixier aus Stierblut und Stiersamen verabreicht, das er
zum Test vor den Augen der Ärzte zunächst selbst trinken muss, eine Verkostungsgeste, die gleichzeitig feierlich und authentisch ist.
Das Zeremonielle erscheint in diesem Film durchweg als Natürlichkeit. Serra nimmt die höfische Pracht, die entfaltet wird, sehr ernst, er wendet sehr viel Sorgfalt auf Ausstattung und kunstvoll gestaltetes Dekor und lässt die faszinierend dunklen, gleichwohl sehr klaren Einstellungen wie Gemälde von alten Meistern wirken.
Unter dem Schleier einer klassischen Dämpfung behält alles in diesem Film eine konkrete sinnliche Qualität.
Diesen ungekünstelten Eindruck, der hier
trotz allen Aufwandes entsteht, verdankt der Film vor allem auch den Schauspielern. Die meisten von ihnen sind, wie bei Serra üblich, keine professionellen Schauspieler. Und das gilt in gewissem Sinn auch für den Hauptdarsteller, für Jean-Pierre Léaud, der in seinen vielen Rollen seit Nouvelle-Vague-Zeiten immer er selbst geblieben ist. Serra verschafft ihm hier gewissermaßen die Krönung seiner Schauspielerkarriere: Léauds phänomenale Performance gibt dem sterbenden Ludwig
genau die unaufgesetzte Natürlichkeit, die den Kern dieses Films ausmacht.
Jedes kaum merkliche Zucken der Mundwinkel, jedes Zittern der Wangen, jeder müde Lidschlag wird in den Nahaufnahmen registriert. Und so kann der physische Tod des Königs konsequent ausbuchstabiert werden, während der Körper des Schauspielers Léaud zu intensivstem Leben erwacht.
Serra veranschaulicht hier auf geradezu subtile Weise die historische Lehre von den zwei Körpern des Königs: vom Körper
der Repräsentation, mit dem der König ein Funktions- und Machtträger ist, und vom Körper der Präsenz, den der König als konkreter Mensch besitzt. Genauso zeigt Serra damit, wie sehr er ein Materialist des Kinos ist, aber einer, der Materialität immer auch als Spiritualität begreift.
Einmal will der alte König, da liegt er schon sterbenskrank in seinem Bett, ein paar Hofdamen, die ihn aufgeheitert haben, zum Dank auszeichnen. Für diese »grande salutation«, den »grandiosen Gruß«, wie er in der höfischen Sprache heißt, lässt er sich seinen Hut bringen. Es ist ein großer breitkrämpiger Hut mit einer langen Feder. Er hebt das Ding über seinen Kopf, auf seine Perücke. Dann lüftet er ihn ein wenig, mit einer ausladenden, nur leicht mechanischen Geste. Dann sitzt der Hut wieder auf dem Kopf und der alte Monarch ruft die Diener, um ihn wegzunehmen. Erst als das geschehen ist, applaudieren die Damen.
Dies ist ein Film der Ruhe und der kleinen, genau gesetzten Zeichen. Der Genauigkeit und der Würde des Umständlichen. Es war dies, was den Hof des Ludwig XIV., des »Sonnenkönigs«, so einzigartig modern machte: Dass dieser absolutistische Monarch ein genau ausgeklügeltes detailliertes Zeichensystem etabliert hat, und dass die Verletzung der Symbole schwerer wog, als alles andere. Durch dieses Zeichensystem wurde der Staat zum Kunstwerk, der Hof zur Produktionsstätte des Politischen, und der Sonnenkönig zu seinem Zentrum seiner Sonne. Auch die Ärzte, die den König noch einmal heilen sollen, sind kleine Trabanten in diesem Sonnensystem, und jeder ihrer Schritte, auch einfachste Überlebensregeln, wie das Trinken sind Teil dieses Systems – wenn der König Wasser trinkt, muss es ihm ein anderer reichen, als wenn er Wein bekommt. Auch das Sterben des Königs ist in diese Rituale integriert.
Albert Serras Film über den letzten Monat im Leben dieses Mannes, der Frankreich 72 Jahre lang regierte, ist großartiges, zugleich bescheidenes Ausstattungskino, und obwohl historisch bis ins Detail genau recherchiert, nicht nur für historisch Interessierte reizvoll. Obwohl natürlich historisch alles bis ins Detail genau recherchiert wurde, und Serra nicht nur die berühmten Memoiren des Herzogs von Saint-Simon und des Marquis de Dangeau konsultierte.
Das Geschehen selbst beginnt mit einer Außenaufnahme: In der Abendämmerung kehrt Ludwig von einem Jagdausflug in den Gärten von Versailles zurück, er wir auf einem hölzernen Rollstuhl geschoben. Denn Schmerzen plagen ihn am linken Bein. Der Rest des Films spielt sich fast nur in den Innenräumen der königlichen Schlafgemächer ab. Jedes von Serras prachtvollen Bilder ist genauestens komponiert, jedes erinnert an barocke Gemälde: Warme Braun und Rottöne dominieren, das Licht
scheint immer von Kerzenleuchtern kreiert.
Ohne eine einzige Totale, ohne Establishing-Shots, rückt Serra seinen Figuren sehr nahe: Er belauscht das Geflüster hinter dem Rücken des Monarchen, den Kampf der rivalisierenden Ärzte, und den Kampf der zwei Körper des Königs miteinander, des sterblichen, kranken aus Fleisch und Blut und des symbolischen, unsterblichen, dem auch Ludwigs XIV. Geist gehört.
Kein Anderer als Jean-Pierre Leaud, der strahlende junge Star der Nouvelle Vague, vor allem in den Filmen von Francois Truffaut, spielt den alten Sonnenkönig: Mit zehn verschiedenen Perücken, altersmildem Gesichtsausdruck, aber vor allem mit seinem Blick: Dieser Blick des 72-jährigen ist noch ähnlich intensiv, wie der des jungen Leaud als Star der »Nouvelle Vague«. Und ein klein wenig ist dies auch ein Film über das Altern des Nouvelle Vague-Königs Jean-Pierre Leaud.
Sein Regisseur ist der aus Barcelona stammende Spanier Albert Serra. Vor zehn Jahren war Serra der hippste aller Autorenfilmer, ein Darling der Festivalleiter und Kunstkuratoren, der selbst ein kleiner König war, der auf den Festivals von Cannes oder Locarno Hof hielt, dicke Ringe trug, und lakonisch rätselhaft daherredete. Sein Momentum ist ihm irgendwann abhanden gekommen, und jetzt ist Serra plötzlich nicht mehr angesagt, sondern führt bei vielen nur zu Augenrollen. Vielleicht kommt dieser Zustand aber der Konzentration auf das Eigentliche, seine Filme zugute. Der Tod von Ludwig XIV. ist ein sehr menschlicher, und trotz grundsätzlicher Ironie warmherziger Film über das Verhältnis von Verfall und Spektakel.