I/D/F/BR 2019 · 153 min. · FSK: ab 12 Regie: Marco Bellocchio Drehbuch: Ludovica Rampoldi, Valia Santella, Francesco Piccolo, Marco Bellocchio Kamera: Vladan Radovic Darsteller: Pierfrancesco Favino, Luigi Lo Cascio, Fausto Russo Alesi, Maria Fernanda Cândido u.a. |
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Hier ist die Mafia-Welt noch intakt | ||
(Foto: Pandora Flm) |
»Seit wann sind Sie in der Mafia?« – »Die Mafia gibt es nicht. Cosa Nostra ist der Name.«
aus: »Il Traditore«
Was an diesem Film am meisten überrascht, ist seine Einfachheit. Dies ist bei allen dem Thema innewohnenden theatralischen Elementen ein direkter, schnörkelloser, von Anfang bis Ende konsequent erzählter Film.
Das nicht-italienische Publikum muss sich zwar anfangs erst zurechtfinden zwischen Namen und Verhältnissen, doch schnell ist das komplexe Geflecht verschiedener Mafiafamilien, Auftragskiller, Geschäftemacher, Bosse, den dazugehörigen Frauen und Clanmitgliedern und ihren Gegenspielern bei der Polizei zugespitzt auf eine klare Grundkonstellation: Das Duell zwischen Tommaso Buscetta, dem Mafiaboss, und Giovanni Falcone, dem auf die Mafia spezialisierten Staatsanwalt, dessen schockierende Ermordung im Jahr 1992 sich ins Gedächtnis aller eingebrannt hat, die sie an den Nachrichtenbildschirmen verfolgten.
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Kleiner Erkläreinschub, für die ganz ganz Schlauen: Falcone wird in Deutschland gern als »Richter« bezeichnet. Das ist nicht falsch, ganz richtig aber auch nicht. Tatsächlich war er ein »giudice inquirente« und wird so auch im Film genannt, kein »magistrato«, kein »Richter«. Seine Tätigkeit könnte man am ehesten als die eines »Untersuchungsrichters« bezeichnen, das heißt, er bereitete wie ein Kommissar oder Staatsanwalt ermittelnd die Anklage vor und verfügte über
Exekutiv-Befugnisse, nicht aber über judikative. Er tritt im Prozess im Film daher auch als Ankläger auf, nicht als Richter.
Dies sind Unterschiede zwischen dem deutschen und dem Justizsystem romanischer Länder, die auch in französischen Filmen eine Rolle spielen (beispielhaft Phillippe Lefebvres Le juge von 1984, in dem Jacques Perrin einen solchen Juge spielt, auch hier im Kampf gegen die Mafia; Yves Montand in Z von Costa-Gavras oder Isabelle Huppert in Claude Chabrols L’ivresse du pouvoir), die aber einem deutschen Publikum nicht bewusst und schwer auf die Schnelle zu erläutern sind.
Falcone führt im Gegensatz zum späteren Richter Vorprozess-Ermittlungen mit Verdächtigen, die das Thema des Films sind, und
kann Zeugenschutz anbieten.
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Zuerst duellierten sie sich, dann begann Tommaso Buscetta, jener ranghohe Cosa-Nostra-Boss, irgendwann zu »singen«, also mit dem Schweigegelübte der »Cosa Nostra« zu brechen, und vor den Behörden auszusagen. Seine unerwarteten Enthüllungen führten zum größten Anti-Mafia-Prozess in Italien.
Falcone ist auch eine historische Figur. Buscetta (hervorragend gespielt vom italienischen Starschauspieler Pierfrancesco Favino) wurde zu Falcones Kronzeugen, durch den die komplette kriminelle Hierarchie Siziliens in einer Reihe dramatischer Zeugenaussagen aufdeckt wurde.
Der Prozess selbst ähnelte auch in der Wirklichkeit einem Zirkus. Bellocchio stellt diese Spektakel-Atmosphäre als großes Schauspiel nach, wie schon zuvor ein paar Bluttaten, ein paar Mafiatreffen und die Verhaftung Buscettas in Brasilien im Jahr 1983.
Die sogenannten »Maxi-Prozesse« begannen 1986 und wurden zu einem surrealen Pandämonium mit unbändigen Angeklagten und Zeugen, die sich gegenseitig beschimpften oder gegenseitig zu ihren Claqueuren wurden, dazu einem
Klage-Chor von fortwährend laut wimmernden Mafia-Ehefrauen, die den Prozess unterbrachen.
Vor allem aber interessiert sich der Regisseur dafür, warum dieser knallharte, auch in der Haft nicht gebrochene Gangster überhaupt das eherne Gesetz des Schweigens, die »Omertà«, brach und sich gegen seine Komplizen wandte. Buscetta selbst machte kein Geheimnis aus seiner Sicht der Dinge: »Ich war und bin auch immer noch ein Ehrenmann. Diese Herren sind es, die die Ideale der Cosa Nostra verraten haben. Und deshalb halte ich mich nicht für einen Verräter.« Nicht er habe die Cosa Nostra verraten, die Cosa Nostra sei von ihren neuen Anführern verraten worden. Als er begann, Namen zu nennen, hatten Mafiaboss Totò Riina und sein Corleone-Clan bereits Frauen und Kinder ihrer Konkurrenten ermordet, was für Buscetta einen Schritt zu weit ging und mit dem alten Ehrenkodex der Mafia brach.
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Bellocchio war in den über fünf Jahrzehnten seiner Karriere immer auch ein Chronist der italienischen Gesellschaft und Politik – selbst wenn er Horrorfilme drehte.
Dieser Film ist wie gesagt ganz einfach, nüchtern und gradlinig, so nüchtern und gradlinig, wie italienische Politik nie sein wird, aber er ist dabei auch genau so kompakt und komplex, wie italienische Politik immer ist: Ein dichter Dschungel aus Tatsachen und Beziehungen, kaum durchschaubar für den
Außenstehenden. Und Bellocchio schlägt keine wüsten Schneisen in diesen Dschungel, er Arbeit eher mit Skalpell, Nagelschere und Rasiermesser: Ein Film der Feinheiten also über die unfeinen Herren, dabei von einer bewundernswerten Souveränität. Und auch hier taucht die Politik mit ihren Mafia-Verstrickungen auf.
Ein bitterer Witz liegt in der Entscheidung, die Toten in dem eskalierenden Bandenkrieg der Mafia durch einen Todesticker im Bild zu zählen. Auch darin, in dem Zynismus
dieser nackten Zahlen – aber man erinnere sich: Der Zyniker ist ein enttäuschter Moralist – liegt ein weniger romantischer Blick, als ihn Martin Scorsese in The Irishman auf die Mafia warf: Auch das war ein Desillusionierungsfilm, aber eben doch auch ein letzter Auftritt der Band, in der noch mal alle »Greatest Hits« gespielt wurden.
Bellocchio ist besser in Form. Sein Film über
das Leben und den Tod der Mafia, vor allem über ihr Altern ist der Film eines durchtrainierten Regisseurs in seinen besten Jahren – minimalistisch, ohne ein Gramm Fett. Bellocchio überspringt Buscettas Blütezeit als Fürst der Mafia fast komplett. Er feiert nie den Glamour des Verbrechens – wobei es auch nicht schlimm wäre, wenn er es täte. Aber ihn interessiert das nicht. Seine Entscheidung ist eine ästhetische, keine moralische.
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Als alles vorbei war, schloss sich Buscetta unter dem Deckmantel des Zeugenschutzprogramms seiner Familie in den USA an, aber nachdem Falcone 1992 ermordet wurde und Riina 1993 schließlich selbst vor Gericht gestellt wird, kehrte er nach Palermo zurück, um seinen Feind zu Fall zu bringen. Aus Rache, oder um seine Familie zu schützen? Es ist diese Zweideutigkeit, die Buscetta zu einer schillernden, faszinierenden Figur macht, die in all ihrer Unergründlichkeit auch sympathische Seiten hat.
Marco Bellocchio hat einen auch unterhaltsamen Film gedreht, einen dynamischen, nie langweiligen Mafia-Gangsterthriller mit Elementen des Gerichtsdramas, der mit der Attraktivität und den flamboyanten Seiten dieses Gangster-Playboys spielt.
Zugleich ist dies am Ende eine Reflexion über Verrat und Loyalität, und darüber, wann das eine besser ist, wann das andere; es ist dies auch ein Film über die Reue und die Wahrheit, über die Kraft und Erleichterung, die beide geben, mit
einer kraftvollen Kamera und hervorragendem Musikeinsatz.
In dem in den 1980er-Jahre beginnenden »Maxi-Prozess« von Palermo gegen die Cosa Nostra wurden 475 Personen angeklagt und 360 Mitglieder der Mafia für schuldig gesprochen. Der Prozess wurde möglich durch die Aussagen des Cosa Nostra-Mitglieds Tommaso Buscetta. Marco Bellocchios Film Il Traditore – Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra widmet sich dem realen Fall.
Anfang der 1980er-Jahre tobt ein blutiger Krieg zwischen zwei Gruppierungen der sizilianischen Mafia. Um seine Frau und seine jüngeren Kinder zu schützen, geht der hochrangige Boss Tommaso Buscetta (Pierfrancesco Favino) nach Brasilien und kümmert sich um die dortigen Drogengeschäfte der Cosa Nostra. Währenddessen werden in der Heimat zahlreiche Freunde und sogar die beiden ältesten Söhne von Buscetta von dem rivalisierenden Corleone-Clan ermordet. Dann fasst die brasilianische Polizei Buscetta und will ihn nach Italien ausliefern. Nachdem ein Selbstmordversuch Buscettas scheitert, lässt sich der Mafioso von dem Staatsanwalt Giovanni Falcone (Fausto Russo Alesi) zu einem Kronzeugen-Deal überreden.
Bei einer anfänglichen großen Feier sind die sich später erbittert bekriegenden Mafiafamilien noch freudig vereint. Hier arbeitet Marco Bellocchio mit üppigen Namenseinblendungen. Doch schon kurze Zeit später zeigt ein Ticker die Anzahl der Todesopfer an, die auf Seiten der Palermitaner Familien zu verzeichnen sind. Dabei geht die Corleone-Familie mit äußerster Brutalität vor. Schnell geschnitten wird gezeigt, wie zahlreiche Vertraute von Tommaso Buscetta ermordet werden. Einem jungen Mann wird erst der Arm abgehackt, bevor er erschossen wird. Brutal ist auch das Vorgehen der brasilianischen Polizei, als sie Buscetta fasst. Der Mafioso wird nicht nur blutig geschlagen. Auch seine Frau wird aus einem Hubschrauber gehängt, um den Boss zu einer Aussage zu bewegen. Szenen von hoher Brutalität ziehen sich durch den gesamten Film. Ein Mann vernäht sich den Mund mit einem blutigen Faden. Zwei Männer werden auf bestialische Weise erwürgt. Eine Bombe bringt ein Auto zum Detonieren.
All diese Gewalt wird, wie in italienischen Mafiafilmen üblich, nicht glorifiziert, sondern auf erschreckend realistische Weise dargestellt. Damit wandelt Il Traditore auf den Spuren von Genreklassikern wie Damiano Damianis Der Clan, der seine Feinde lebendig einmauert (1974) und neueren Filmen wie Gomorrha – Reise in das Reich der Camorra (2008) oder Suburra (2015). Im Gegensatz zu den letzteren und noch mehr als Damiano Damianis Film ist Il traditore jedoch ein äußerst dialoglastiger Film, in dem Actionszenen absolute Ausnahmen bleiben.
Viel Zeit widmet der Film dem Dialog zwischen Tommaso Buscetta und dem Staatsanwalt Giovanni Falcone. Nur widerstrebend lässt sich Buscetta zu einer Aussage bewegen. Er betont, dass er kein Verräter sei, und spielt seine eigene Rolle in der Organisation herunter. Aber schließlich sagt er doch gegen den Corleone-Clan aus, da dieser sich nicht mehr an die Vereinbarungen der »ehrenwerten Familie« hält. Sie ermorden Frauen und Kinder. Schuld ist die Gier, die durch den Einstieg in den Heroinhandel entstanden ist. Früher war das alles anders. Buscetta bezeichnet sich selbst als einen ehrenwerten Mann. Das düstere Farbschema der Inszenierung unterstreicht hierbei die Ernsthaftigkeit der Situation, in die sich Buscetta hineinversetzt sieht.
Alle diese Zurückhaltung hat Buscetta jedoch aufgegeben, als er den Ort der Gerichtsverhandlung betritt. In dem eigens zu diesem Zweck errichteten »Bunker« sind die Angeklagten wie Tiere in käfigartigen Zellen eingesperrt. Hinter Panzerglas macht Buscetta seine Aussagen und sagt, dass er es gar nicht erwarten könne, mehreren Angeklagten zu einer Gegenüberstellung zu begegnen. Die Angeklagten in ihren Käfigen toben. Sie ziehen sich nackt aus, rauchen Zigarre, simulieren einen epileptischen Anfall und stoßen wüste Drohungen aus. Nach der ersten Gegenüberstellung verzichten die anderen drei Kandidaten freiwillig auf weitere Gegenüberstellungen. So sehr hat Buscetta bereits den ersten Gegner fertiggemacht. Pierfrancesco Favino brilliert hier in der Rolle des selbstbewussten Buscetta. Dabei kontrastiert sein steriler Panzerglasschutz mit dem chaotischen Treiben in den Käfigen der Angeklagten.
Buscetta ist dann am besten in Form, wenn er große Auftritte hat. Als er später im Rahmen des Zeugenschutzprogramms in den USA zur Untätigkeit verdammt ist, baut er sichtlich ab. Bei einer späteren Anhörung trägt er einen Schnauzer und macht einen zutiefst verunsicherten Eindruck. Als er mit einem Gewehr auf dem Dach seines Hauses in Miami Wache hält, wirkt er nur noch wie ein Schatten seiner selbst. Immerhin erreicht er noch sein Ziel und stirbt im Jahr 2000 eines natürlichen Todes.
Il Traditore erfindet den Mafiafilm keineswegs neu. Aber aufgrund seines stark aufspielenden Hauptdarstellers und der äußerst lebendigen Gerichtsszenen entfaltet der Film doch seine eigenen Qualitäten.