Trenque Lauquen – Teil 1

Trenque Lauquen parte I

Argentinien/D 2022 · 128 min.
Regie: Laura Citarella
Drehbuch: ,
Kamera: Agustín Mendilaharzu, Inés Duacastella, Yarará Rodriguez
Darsteller: Laura Paredes, Ezequiel Pierri, Rafael Spregelburd, Juliana Muras, Verónica Llinás u.a.
Filmszene »Trenque Lauquen - Teil 1«
Auf der Suche nach allem – und nichts...
(Foto: Grandfilm)

Die Geheimnisse der Argentinierin

Das Sehen und das Hören: Laura Citarellas Film ist »Twin Peaks« in der Pampa, eine unendliche Geschichte der Phantasie, ein Spiel mit Kinomythen – und ein Liebesfilm

»academia doesn’t prepare you for sadness.«
– Rafael, in »Trenque Lauquen«

»Der Zerfall des Zeichens – der durchaus die große Ange­le­gen­heit der Moderne zu sein scheint – ist im realis­ti­schen Unter­fangen zwar anwesend, aber auf gewis­ser­maßen regres­sive Weise, da er im Namen einer refe­ren­ti­ellen Fülle geschieht, wo es sich doch heute, im Gegenteil, darum handelt, das Zeichen zu leeren und seinen Gegen­stand endlos weiter zurück­zu­ver­setzen, bis die jahr­hun­der­te­alte Ästhetik der Reprä­sen­ta­tion radikal in Frage gestellt wird.«
– Roland Barthes, 1968

»Anders wäre es eine andere Geschichte.« – die Erzählung und die Erklä­rungen für uner­klär­liche Vorgänge, sie stehen von Anfang an im Zentrum des Films. In den ersten Sätzen der ersten Szene hören wir einen Mann, der am Telefon einer Frau namens Clara etwas erklärt: »Die Situation ist voll­kommen klar. Hier sind die Hinweise.« Und, ganz wichtig: »Wir sollten das Akade­mi­sche nicht mit der Situation vermi­schen.«

Das Über­hand­nehmen des Akade­mi­schen, des Diskurses der Univer­si­täten, der akade­mi­schen Frage­stel­lungen und Sprech­weisen, die auch zutiefst bourgoise Frage­stel­lungen und Sprech­weisen sind, ist eines, das dieser Film atta­ckiert. Er tut das so, wie er überhaupt ist: Lässig, humorvoll, ohne Zorn und Eifer, ohne Schaum vorm Mund und ohne jenes soge­nannte Enga­ge­ment, das man heute gern von Künstlern und ihrem Publikum verlangt, und zu dem gehört, das Themen und Rich­tungen schon vorge­geben sind. Mit jener »Litte­ra­ture engagée« Sartres hat jenes Enga­ge­ment aller­dings nichts gemein. Das nur am Rande.

Raus aus der Großstadt, hinein in die aus Haupt­stadt­per­spek­tive gern verach­tete Peri­pherie der Provinz.

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»Trenque Lauquen« ist der Name einer Stadt in der argen­ti­ni­schen Pampa, die 445 km von Buenos Aires entfernt liegt. An diesem Ort verschwindet eine Frau: Sie heißt Laura, ist Biologin. Sie verschwindet spurlos. Zunächst ist sie noch in allen Erzäh­lungen, im Denken und Fühlen anderer Figuren präsent. Allmäh­lich verflüch­tigt sie sich – oder besser: Sie wird zum Mythos.

Man könnte Trenque Lauquen, der in zwölf Kapiteln erzählt wird, als Fantasy beschreiben, als phan­tas­ti­schen Film. Manchmal ist dieser Film auch ein Road-Movie, manchmal ein Thriller. Ein Detek­tiv­film. Aber nur insofern hier Spuren gesucht und immer wieder nei zusam­men­ge­setzt werden. Lauras Verschwinden wird nicht zu einer Krimi­nal­ge­schichte. Es ist von Anfang an klar, dass diese Figur irgendwo ist und etwas tut, von dem die anderen nicht wissen (sollen), was es ist. Es gibt Rück­blicke. Vor allem aber ist dies ein Liebes­film...

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Ein Liebes­film aus Argen­ti­nien: Eine Frau, die verschwindet, zwei Männer, die nach ihr suchen, die Geschichte einer anderen Frau, die mit der ersten zusammen war, und ein Mann, der sich in sie verliebt...
Zugleich eine Abhand­lung über das Erzählen: Trenque Lauquen ist nicht zu fassen – ein Film über das Geheimnis – der Liebe und des Kinos

Zwei Männer, die Laura lieben, machen sich auf die Suche. Weitere Figuren kommen dazu. Die Nach­for­schungen der beiden Männer offen­baren eine Laura, die ebenfalls Ermitt­lerin ist. Die Grundlage ihrer Nach­for­schungen, die sie für eine Radio­sen­dung – über eman­zi­pierte Frau­en­fi­guren – unternahm, war eine Reihe von Briefen, die in den Büchern einer Biblio­thek verstreut sind.

So entfaltet sich ein Spuren­such­spiel auf mehreren Ebenen, das an einige fran­zö­si­sche Pulp-Romane – oder auch an Rivette-Filme – erinnert.

Die Geschichte dreht ihren Fokus wie ein Kalei­do­skop, anfangs erscheint alles linear und eindeutig, doch je mehr wir erfahren, um so weniger wissen wir. Der Film lebt, löst die Distanz zu seinem Publikum gewis­ser­maßen auf, und saugt fast hinein in die Handlung. Das klingt kompli­ziert und abgehoben, ist aber sehr unter­haltsam und sinnlich.

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Das Sehen und das Hören, diese Sinne sind die zentralen Bestand­teile des Kinos. Das klingt banal, ist aber essen­tiell, wie Citarella klar macht, indem sie das Sehen und das Hören ins Zentrum der Darstel­lung rückt, und dabei in seine Bestand­teile zerlegt.

Wie filmt man Poesie? Wie (re)konstru­iert man ein Leben?

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Es ist viel los im argen­ti­ni­schen Kino. Gerade erst konnte man das beim Film­fes­tival in Cannes wieder fest­stellen: In dem latein­ame­ri­ka­ni­schen Land mit großer Film­tra­di­tion hat sich in der Folge der kata­stro­phalen Finanz­krise von 2002 in den letzten zwei Jahr­zehnten ein ganz eigen­wil­liger Stil von Autoren­kino heraus­ge­bildet, der unver­wech­sel­bare Filme auf die Leinwand bringt. Meist sind es undra­ma­ti­sche, aber intensive, verspielte Geschichten, erzählt mit Humor und Souver­änität.
Neben einzelnen Regis­seuren wie Lucrezia Martel und Pablo Trapero macht seit gut fünf Jahren auch ein Kollektiv von sich reden: »El Pampero Cine« (gegründet von Mariano Llinás, Laura Citarella, Alejo Moguillansky und Agustín Mendi­la­harzu) versucht seit 2002 am Rande der Macht der Politik und der argen­ti­ni­schen Film­in­dus­trie, aber nicht als ihr Gegensatz, mit geringem Budget und außerhalb der konven­tio­nellen Finan­zie­rungs­wege als Team Filme zu machen, die die Viel­stim­mig­keit und Multi­per­spek­ti­vität auf der Leinwand erkennbar machen. Das erste Groß­pro­jekt von El Pampero war der inter­na­tional gefeierte La Flor. Jetzt kommt mit Trenque Lauquen ein neuer ambi­tio­nierter Film ins Kino, der wiederum als Geschichte über Geschichten und als Reflexion des Erzählens beschrieben werden kann, als eine Reflexion, die nur selten in die »Intel­lek­tua­li­täts­falle« geht, und Gefahr läuft, das Publikum zu belehren und dadurch auszu­schließen, dass es signa­li­siert und betont, wie viel klüger es doch sei.

Trenque Lauquen ist Teil eines weitaus größer ange­legten filmi­schen Projekts. Schon in Laura Citarellas Debütfilm Ostende (2011) spielte die Schau­spie­lerin Laura Paredes eine Figur namens Laura. Das Ziel sei, »eine Reihe von Filmen, in denen dieselbe Figur verschie­dene Leben in verschie­denen Städten in der Provinz Buenos Aires führt«, zu reali­sieren, sagt die Regis­seurin. Dass die Figur denselben Vornamen wie ihre Haupt­dar­stel­lerin und wie sie selbst trage, sei kein Zufall. Diese Laura sei »eine Art weib­li­cher Sherlock Holmes, eine Frau, die sich in den Städten verirrt und auf Abenteuer aus ist.«

Man muss den Ehrgeiz von Laura Citarella bewundern, die die Aufgabe, einen Film dieser Größen­ord­nung zu insze­nieren, mit Leich­tig­keit meistert, nicht nur wegen seiner Länge, sondern auch wegen der schieren Anzahl von Themen, Figuren und Tönen, die es zu durch­laufen gilt.

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Der zweite Spielfilm von Laura Citarella wurde auf dem Festival von Venedig im Vorjahr in einer mehr als vier­stün­digen durch­gän­gigen Fassung urauf­ge­führt. Beim Festival von San Sebastián lief er dann in einer alter­na­tiven Versionen mit zwei Teilen. Er könnte im Prinzip noch weitere Formen annehmen – ein »Amphi­bi­en­film«, wenn dieser Begriff von Günther Rohrbach denn jemals Sinn gemacht hat, ein Film, dessen Material viel­ge­staltig ist und sich mal zu dehnen, mal zusam­men­zu­ziehen scheint. Dieser Film ist auch eine im fiktio­nalen Format getarnte Abhand­lung über das Erzählen, ein Expe­ri­ment, eine myste­riöse mutie­rende Metapher für das Ganze: Die Flüch­tig­keit und Verän­der­lich­keit von allem.

Dieser Film hat so, wie er jetzt ins Kino kommt, zwei Teile, aber sie gehören zusammen und man sollte ihn so sehen, wie er auch vorge­führt wird: Nämlich in einem Stück.

Die Idee einer Frau, die ebenso spurlos wie grundlos verschwindet, ist ganz offen­sicht­lich von Michel­an­gelo Anto­nionis welt­berühmtem Film L’Avventura inspi­riert. Aber man muss auch an Borges und Cortázar denken, die beiden großen argen­ti­ni­schen Autoren, deren verwor­rene Meta-Erzäh­lungen hier Pate stehen. Und an den Chilenen Bolaño. Der Erzähl­cha­rakter wird im Film durch den inten­siven Einsatz von Voice-over betont.
Ähnlich wie deren Erzäh­lungen und Romane ist Trenque Lauquen ein laby­rin­thi­sches Spiel voller Romantik, Witz und Abenteuer, ein Spiel auch mit Kino­my­then wie den Topoi des Science-Fiction-Films.

Vor allem aber erinnert alles atmo­s­phä­risch an die Vexier­filme von David Lynch. Ist der Vornahme Laura wirklich nur ein Zufall?

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»Zwei Formen von Textua­lität: a schrift­liche veröf­fent­lichte, das heißt mittels eines Objekts aus Papier zirku­lie­rende Form, das Buch (der Artikel etc); b unge­schrie­bene: Zirku­la­tion, Einschrei­bung von Signi­fi­kanz ins Leben; Schrift­steller ohne Buch (ich kenne einige...); die Eroti­sie­rung als Äußerung, Produk­tion«
– Roland Barthes, »Lexik des Autors«, S. 47f.

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Und das Verschwinden selbst hat viele Seiten: Zunächst verviel­fäl­tigen sich die Geheim­nisse auf erhei­ternde Weise, dann werden die Geheim­nisse allmäh­lich enthüllt. Die unruhige Neugier, der Drang, Wahr­heiten zu entdecken, die die Rätsel, die im Film auftau­chen, lösen, ist die Haupt­an­triebs­kraft, die die Prot­ago­nisten zu ihrem Entde­ckungs­drang treibt.
Die Neugier ist aber auch die treibende Kraft für das Interesse des Publikums.

Neugier steht am Beginn aller Wissen­schaft, jeder Aufklä­rung. Sie ist aber auch eine christ­liche Todsünde: Warum inter­es­sieren wir uns so sehr für Laura? Inter­es­siert uns, ob sie überhaupt gefunden werden will? Welches Recht haben die Figuren in der Geschichte (und damit auch wir), etwas unbedingt heraus­finden zu wollen, was Laura nicht erzählen wollte?

Die fast vier­ein­halb Stunden vergehen wie im Flug und nehmen das Publikum in ihren detail­rei­chen Fiktionen gefangen.

Das liegt auch daran, dass dieser Film mehr Eugène Sue ist als Flaubert, weniger »Madame Bovary« und mehr »Die Geheim­nisse von Paris«.
Wenn man diesen Film wirklich schätzt, sollte man ihn nicht akade­mi­sieren.

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Gibt es Vergleich­bares im Kino von heute? Der Film erinnert an La Flor von Mariano Llinás, der hier Berater für das Drehbuch war, beide Filme sind von El Pampero produ­ziert, aber doch gibt es große Unter­schiede zwischen beiden.

Wieder aber haben wir es mit einem großen, sehr unge­wöhn­li­chen Werk zu tun, das keine Zusam­men­fas­sungen oder Verein­fa­chungen zulässt, das ein Rätsel ohne mögliche Lösung präsen­tiert, und eher das Wesen des Geheim­nisses erforscht – des Geheim­nisses der Liebe, des Kinos, der Identität selbst. Diese Suche kann immer nur zu einem weiteren, neuen Geheimnis führen. Oft fragt man sich, wohin das alles führen soll, aber am besten lehnt man sich einfach zurück und lässt sich, wie vom Leben selbst, über­ra­schen. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann suchen sie noch heute.