Italien/F 2016 · 130 min. · FSK: ab 12 Regie: Marco Bellocchio Drehbuch: Valia Santella, Edoardo Albinati, Marco Bellocchio Kamera: Daniele Ciprì Darsteller: Valerio Mastandrea, Bérénice Bejo, Fabrizio Gifuni, Guido Caprino, Barbara Ronchi u.a. |
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Erinnerung an die Kindheit in Phantasmen und Tagträumen |
»Fai bei Sogni« – »Träum was Schönes«, hört er die Stimme der Mutter zum Einschlafen. Es ist das letzte Mal, dass er sie hört. Es war ein schönes Leben mit der jungen, lebendigen Frau, die Massimos Mutter war. Man tut dem Neunjährigen nicht unrecht, wenn man feststellt, dass er ein Muttersöhnchen ist – aber warum auch nicht? Das sind andere Jungen in dem Alter auch, und bei Massimo bleibt es im normalen Rahmen. Alles wird allerdings anders, als die Mutter stirbt.
Massimo kann und will diesen Tod nicht akzeptieren. Er erfindet Geschichten, dass die Mutter in New York lebe. Bis heute, mit über 40, ist Massimo über diesen Verlust immer noch nicht hinweggekommen. Er versucht mit Hilfe einer Psychotherapie, sein Trauma zu lindern oder zu verarbeiten. Dann verliebt er sich in die Therapeutin Elisa. Mit ihrer Hilfe setzt er sich mit seiner Vergangenheit neu auseinander und bringt Ordnung in seine Gefühle.
Der Traum, das ist das Medium des Kinos. Wenn Marco Bellocchio in seinem neuen Film den Traum bereits im Titel aufruft, wenn er Figuren beim Tagträumen und Nachtträumen, auch bei Albträumen, zeigt, dann beschwört er damit auch das Kino als Fenster zur Welt und in andere, magische oder phantastische Sphären, und die einmalige Erfahrung des Filmesehens im dunklen Raum, irgendwo zwischen Nacht und Tag.
In Träum was Schönes ist es immer wieder vor allem das Fenster einer Wohnung. Sie liegt in Turin, es ist das Haus, in dem er seine ersten Lebensjahre verbracht hat, und durch dieses Fenster blickt Massimo, die Hauptfigur dieses Films, neunjährig und auch später als Erwachsener wieder ein ums andere Mal auf die Welt.
Er flieht gewissermaßen in Gedanken aus der Wohnung an einen anderen Ort. Wie in einem Panoptikum zeigt sich ihm beim Blick durchs Fenster eine farbenprächtige, erlebnisreiche, abenteuerliche Welt. Diese Welt kommt nahe durch dieses Fenster, die Kamera allerdings, also auch der Ort, an dem das alles spielt, bleibt außen vor, in den Innenräumen der Wohnung, die auch die Innenräume des Bewusstseins sind.
Die Phantastik dieses Draußen wird begrenzt und eingerahmt – das
betont einerseits die Macht des Kinos, andererseits auch die Grenze zwischen dem, was einer sich denkt und fühlt, und dem, was draußen passiert. Das Draußen ist und bleibt also immer weit weg.
Genau um diese Brüche zwischen verschiedenen Erfahrungsebenen geht es in diesem Film. Denn Marco Bellocchio, einst ein radikaler Autorenfilmer im rebellischen Geist der sechziger, siebziger Jahre hat in seinem neuen Film zunächst scheinbar das Gegenteil zur eigenen Tradition gedreht, ein Melodram und nostalgisches Gefühlsstück, bei dem sich ein Erwachsener auf die Suche nach der verlorenen Zeit seiner glücklichen Kindheit begibt, die ihn nicht loslässt.
Zugleich fügt sich
das bei näherem Hinsehen gut in Marco Bellocchios Werk: Denn die abwesende Mutter ist ein Motiv, zu dem der 1939 geborene italienische Regisseur seit seinen Anfängen regelmäßig zurückkehrt. Sein neuer Film, nach Massimo Gramellinis Romanvorlage, schildert den verzweifelten Versuch eines Abschieds von der Mutter – mit Hilfe hervorragender Hauptdarsteller, allen voran der Französin Bérénice Bejo (The Artist) als Elisa – aber auch Nicolò Cabras und Valerio Mastandrea, die Massimo in verschiedenen Altersphasen spielen, sind ausgezeichnet.
Massimos Kindheit ist auch vom Kino geprägt: Ob Nosferatu, das gruselige Phantom der Nacht aus Murnaus Vampirfilm, oder Belphégor, der Geist des Louvre aus der französischen Lieblingsfernsehserie der Mutter – immer wieder verbündet er sich mit Phantasiefiguren.
Ein weiterer Ankerpunkt ist der Fußball. Hier hat er etwas Gemeinsames mit seinem Vater, und so wird Massimo erst Sportjournalist, bevor er eine Weile als Kriegsreporter arbeitet. Immer neu versucht Massimo die Lücke zu füllen, die die Mutter hinterlassen hat – so zeigt Bellocchio geradezu listig, wie das Kino, der Fußball, und andere Unterhaltungsmedien, aber auch die Moralisierung aller Alltagsverhältnisse in unserer gegenwärtigen, utopiefreien und transzendental obdachlosen Welt die Stelle einnehmen, die die Eltern und die Religion, jene Mächte, an die wir nicht mehr glauben können, freigemacht und leer zurückgelassen haben.