Deutschland 2020 · 102 min. · FSK: ab 0 Regie: Valentin Thurn Drehbuch: Valentin Thurn, Sebastian Stobbe Kamera: Gerardo Milsztein Schnitt: Birgit Köster |
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Was ist die Kehrseite von auch gut gemeinten Träumen? | ||
(Foto: Alamode Film/Filmagentinnen) |
»Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für diese Welt.«
– Mahatma Gandhi
Der Titel der Dokumentation beinhaltet einen schönen Doppelsinn: Einerseits kann »Träum weiter!« als abwertende Aussage gegenüber einer unrealistischen Einstellung verstanden werden und andererseits als echte Ermutigung, einen Lebenstraum weiterzuverfolgen. Valentin Thurn, u. a. bekannt geworden mit dem erfolgreichen und international ausgezeichneten Dokumentarfilm Taste the Waste, hatte sicher Letzteres im Sinn, als er über einen längeren Zeitraum fünf Menschen bei ihren äußerst unterschiedlichen Herzensprojekten begleitete. Allen gemeinsam ist die Radikalität und Leidenschaft, mit der sie ihre Ziele verfolgen. Auch sind es Projekte, die das Potential haben, die Welt im Sinne der Nachhaltigkeit oder der Perspektivenerweiterung zu verändern.
Da ist zunächst der Aktionskünstler Joy Lohmann, der schwimmende Inseln aus Müll baut, inspiriert u. a. durch die Soziale Plastik von Joseph Beuys. Man sieht ihn mit jungen Menschen, fröhlich drauflos hämmernd und bastelnd – in Sachsen-Anhalt, dann in Indien. Der Prozess, der Flow ist dabei das Produkt, wie er sagt, was durch Bilder von singenden und lachenden Jugendlichen veranschaulicht wird. Eine ganz andere Stimmung vermittelt da das ruhige Leben von Line Fuks, die nach einer Krebserkrankung und einer Trennung von ihrem Mann mit ihren Kindern und ihrer neuen Partnerin nach Portugal auswandert. Vor allem geht es ihr um den Ausstieg aus dem deutschen Schulsystem, der ihr und ihren Kindern ermöglicht, einen ganz eigenen, oft spontan sich entwickelnden Lehrplan zu verwirklichen. Das erinnert an den aufrüttelnden Captain Fantastic von Matt Ross, in dem eine Aussteigerfamilie in den Wäldern an der Nordwestküste der USA die eigenen ethischen Werte und Bildungsideale lebt. Während im Spielfilm die körperliche Fitness und das Überleben in der Natur eine große Rolle in der Erziehung spielen, sind es bei Line Fuks eher konventionelle Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben, Rechnen, aber auch das Erlernen von Instrumenten oder handwerklichen Techniken. Die Bilder aus Portugal wirken entspannt und harmonisch und zeigen eine Familie, in der Gemeinschaft und Austausch großgeschrieben werden. Idyllisch werden Ziegen auf die Weide geführt, der Strom wird selbst generiert. Dagegen wirkt Günther Golob eher wie ein Einzelkämpfer. Er ist seit fünf Jahren im knallharten Auswahlprozess zur ersten Besiedlungsmission auf den Mars, die 2031 starten soll. Von inzwischen nur noch 100 Bewerbern werden am Ende nur 24 genommen. Man sieht ihn bei langen Läufen in unwirtlicher Natur, beim Skypen mit einem Projektleiter, beim Belastungstest und bei einer Schulveranstaltung mit dem Titel Faszination Weltraum, wo er im Raumfahrtanzug Kinderfragen beantwortet. Irgendwie wirkt das trostlos. Der vierte Protagonist ist der Erfinder Carl-Heinrich von Gablenz, der vor allem als Gründer und Vorstandsvorsitzender der Cargolifter AG bekannt wurde, welche ein Lastenluftschiff für eine bis zu 160 Tonnen schwere Fracht entwickeln und bauen wollte, bevor sie im Jahr 2002 Insolvenz anmelden musste. Die Dokumentation lässt ihn über seine Familie und seinen Lebensweg plaudern und zeigt ihn bei seinem Bemühen eine modifizierte Neuauflage seines Projektes in die Wege zu leiten. Neue Geldgeber hat er schon wieder, Zeit scheint keine Rolle zu spielen, Traum reloaded. Als letzter der fünf Träumenden wird der Architekt Van Bo Le-Mentzel vorgestellt, der mit seinem Tiny Town Urania-Projekt in Berlin für ein bedingungsloses Grundwohnen wirbt. Die Idee: Teilnehmende bekommen das Material gestellt, müssen es aber selbst zusammenbauen. Der Architekt, dem man beim Werkeln und bei der Aufstellung eines neuen Hauses zusieht, erzählt von seiner früheren Frustration in seinem ihm zunehmend sinnlos erscheinenden Beruf und seinem Wunsch, von Kindern wieder das Träumen zu lernen und sich für eine sich mehr an der Gemeinschaft statt der Individualität orientierende Architektur einzusetzen. Hier gibt es auch einen kurzen Einblick in das Familienleben von Van Bo Le-Mentzel.
Zusammengehalten und mit besinnlichen Atempausen versehen werden die fünf so unterschiedlichen Beispiele durch Sequenzen von ästhetisch sehr ansprechenden Sandzeichnungen auf Glashintergrund. Dazu werden aus dem Off lyrische Texte (Doris Schilz) zum Thema Träumen von der Schauspielerin Dagmar Manzel vorgelesen. Eine schöne Idee! Trotzdem fügen sich die vielen Teile der Dokumentation nicht zu einem harmonischen Ganzen, was vielleicht auch gar nicht beabsichtigt war.
Die Auswahl der Projekte wirkt aber etwas wahllos, welche Kriterien waren leitend?
Dass die fünf Beispiele in vier Erzählblöcken durcheinandergemischt serviert werden, ist dabei für den Zuschauer keine Hürde. Das Problem ist aber, dass in den 102 Minuten alle fünf Projekte nur angerissen werden können und man das Gefühl bekommt, eigentlich viel zu wenig über die Menschen und ihre Träume erfahren zu haben, um sie annähernd beurteilen zu können. Viele Fragen bleiben offen, die
Projekte werden nur mit wenigen Bildern skizziert und entfalten somit keinen Sog des Interesses oder das Gefühl, Menschen oder einer Idee wirklich nahegekommen zu sein, wie das bei Dokus der Fall ist, die sich Zeit und Muße für nur ein Thema nehmen. Wie zum Beispiel bei der WDR-Doku Tiny House – Großes Wohnglück im kleinen Haus, die sich 45 Minuten nur diesem einen Thema
widmet. Oder bei der wunderbaren Netflix-Produktion MEIN LEHRER, DER KRAKE über den Filmemacher Craig Foster, der eines Tages beschließt, dass er etwas in seinem Leben ändern muss und der anfängt zu tauchen, wobei er einem Oktopus-Weibchen begegnet, das ihn sofort fasziniert und das sein Leben verändert.
Auch besteht die Gefahr bei Träum weiter! Sehnsucht
nach Veränderung, dass Missverständnisse erzeugt werden. Aus den wenigen Minuten, die man beispielsweise Joy Lohmann und sein jugendliches Team in Varanasi sieht, entsteht ein eher befremdlicher Eindruck von Kulturneokolonialismus und aufgesetzter, am eigenen Spaß orientierter Hilfsbereitschaft, die einen Fremdkörper an diesem heiligen Ort darstellt. Wahrscheinlich ist das ja gar nicht so, aber die wenigen Bilder können irritieren. Auch fehlen bei den schnellen
Wechseln der Orte und Personen einfach Informationen zum Ziel, zur Durchführung und den Folgen der Projekte. Wie finanziert etwa Joy Lohmann seine makers for humanity-Arbeit? Wo und wie werden die Tiny Houses aufgestellt? Wie lebt es sich darin? Können die Kinder von Line Fuks ohne Schulabschluss an einer Universität studieren? Was vermissen sie bei ihrem abgeschottet wirkenden Leben auf dem Land?
Auch bleibt unklar, welche Opfer die gezeigten Menschen für ihren persönlichen Traum bringen müssen. Manches ist nur zwischen den Zeilen zu lesen, wenn man zum Beispiel erfährt, dass Günther Golob bei seiner Marsmission zwei Kinder zurücklassen würde oder dass die Familie von Line Fuks einmal vor einem lebensgefährdenden Waldbrand fliehen musste.
Was ist die Kehrseite von auch gut gemeinten Träumen? Wie viele Aktionäre haben durch die Insolvenz der Firma Cargolifter ihre
kompletten Ersparnisse verloren und sehen dem gezeigten fröhlichen Neustart vielleicht mit gemischten Gefühlen zu? Was werden die Kinder über ihren Vater denken, wenn dieser für immer die Erde verlässt, um auf dem Mars ein neues Leben ohne sie zu beginnen? Spannende Fragen, denen kein Raum gegeben wird. Somit entsteht unfreiwillig ein etwas oberflächlicher, sehr punktueller, in der Kombination nicht unbedingt überzeugender Reigen von eigentlich sehr interessanten und lohnenden
Traum-Projekten, denen man aber mehr Leinwand-Zeit gewünscht hätte, um sie besser zu verstehen.
Der Untertitel »Sehnsucht nach Veränderung« wird in der Doku kaum thematisiert. Vielleicht passt er auch nicht zu allen fünf Protagonisten. Bei den Portugalauswanderinnen war wohl eine persönliche Umbruchsituation der Auslöser für die große Veränderung, bei Van Bo Le-Mentzel die berufliche Unzufriedenheit. Auf jeden Fall findet in der letzten Sequenz Line Fuks eine schöne
Metapher für das Verwirklichen von Träumen. Sie meint, es sei wie beim Schnitzen, bei dem nur viele kleine Schritte zu einem Ergebnis führen, welches selbst allerdings völlig ungewiss und offen sei.