D/Kasachstan/PL/RUS/CH 2008 · 103 min. · FSK: ab 6 Regie: Sergej Dwortsewoi Drehbuch: Sergej Dwortsewoi, Gennadi Ostrowski Kamera: Jolanta Dylewska Darsteller: Askhat Kuchinchirekow, Tulebergen Baisakalow, Samal Esljamowa, Ondajn Besikbasow, Bereke Turganbajew u.a. |
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Zwischen Ethno-Charme und Arthouse-Mainstream |
Herzzerreißend ist das Jammern des Lämmchens. Aber in diesem Augenblick, wenn manch' ein Zuschauer sich seiner Tränen nicht schämen wird, ist das Schlimmste schon vorüber. Denn sein Schreien ist ein Zeichen, dass es leben wird, als erstes nach einer ganzen Reihe von Totgeburten, die die Existenzgrundlage der Hirten aufs Tiefste bedrohen. Wenig ist hier noch wie früher, aber für einen Augenblick scheint die Welt wieder in Ordnung in der kasachischen Steppe. Minutenlang hat man zuvor zugesehen, wie das Lamm geboren wurde, wie Asa, dem für den Hirtenjob nicht gerade begabte Schwager des Herdenbesitzers, nichts anderes übrig blieb, als zum Geburtshelfer zu werden, und das Lamm eigenhändig aus dem Leib der Mutter herauszuziehen – ein atemberaubender Filmmoment, und fraglos der Höhepunkt von Tulpan. Dafür muss man gar nicht wissen, dass der Schauspieler Askhat Kuchinchirekov hier von seinem Regisseur einfach sich selbst überlassen wurde, obwohl er so etwas noch nie gemacht hatte; das hatte ja Asa schließlich auch nicht.
Es sind solche Augenblicke eines ganz rohen dokumentarischen Naturalismus, in denen Tulpan am besten ist: Immer wieder zeigt der Film Sandstürme, die plötzlich einfach da sind, begleitet Schafe beim Grasen auf dem dürren gelben Boden, oder verliert sich im Pfeifen des Windes über der menschenleeren Landschaft. Da zeigt sich die Herkunft des russischen, in Kasachstan lebenden Regisseurs Sergej Dwortsewoj, der vor diesem Spielfilmdebüt mehrere erfolgreiche Dokumentarfilme gedreht hat, die jeweils um Leben und Alltag der kasachischen Hirten kreisen – ebenso wie die Kunst der polnischen Kamerafrau Jola Dylewska, deren Handkamera dem Schauplatz viele wohlgestaltete Bilder abgewinnt, und dem Film einen nie ermüdenden Rhythmus aus langen halbdokumentarischen Einstellungen und subjektiven Bewegungen gibt.
Eine zweite, schöne Ebene ist die Geschichte jener Tulpan, die dem Film seinen Titel gibt. So heißt die Tochter des Nachbarhirten, über hunderte von Kilometern das einzige heiratsfähige Mädchen, das Asa von seinem Schwager angetragen wird. Denn erst mit einer Ehefrau wird hier ein Jüngling zum Mann, denn erst dann bekommt er eine eigene Jurte und die dazugehörige Herde. Diese Tulpan sieht auch der Zuschauer nur mit den Augen Asas, also gar nicht, denn bei seinen Besuchen schließt sie sich regelmäßig in den Stall ein und weist jeden seiner unbeholfenen Annäherungsversuche zurück – er habe zu abstehende Ohren, wird ihm einmal zugetragen, aber allein daran kann es nicht liegen. Wie die meisten Jüngeren hier träumt Tulpan offenbar von nichts mehr als von der Flucht in eine größere Stadt, vom modernen Leben mit seinem Komfort.
In diesem Grundkonflikt zwischen Tradition und Moderne ist der Film, der beim Festival von Cannes in der Reihe Un Certain Regard 2008 den Hauptpreis gewann, ganz konventionell, und bewegt sich auf der Linie mit einem gefühlten Dutzend Filme, die jenes neue Genre der Kamel- und Schafsfilme bilden, von europäischen Firmen – Tulpan ist eine deutsch-schweizerisch-kasachisch-russisch-polnische Koproduktion – finanziert und vertrieben werden, in der zentralasiatischen Steppe, irgendwo zwischen Kaspischem Meer und der Mongolei spielen, und das Leben der Hirten zeigen wie man es sich in Westeuropa gern vorstellen würde – und vor allem ihre vielen Tiere: Die Geschichte vom weinenden Kamel oder Tuyas Hochzeit sind nur die bekanntesten. In diesen Filmen ist die Hälfte der Leinwand von blauem Himmel bedeckt, auf der anderen Hälfte sieht man eine gelbe Steppe, karg und weit und im Hintergrund ganz klein ein paar Tiere oder auch Kinder. Immerhin macht Dwortsewoj im Unterschied zu manchen Kollegen nicht den Fehler, den Alltag der Hirten allzu idyllisch zu zeigen. Man kann ihm nicht vorwerfen, die harten, unangenehmen Seiten dieses Lebens zwischen Hüttenfeuer und Schafsdung völlig zu verleugnen.
Den Einbruch der globalen Medienwelt gibt es wie in der Geschichte vom weinenden Kamel auch hier, repräsentiert vom ständig laufenden Radio Kazakh und seinen Nachrichten, die meist um die glorreichen Taten des Präsident Nazierbajew kreisen. Ansonsten lesen die Hirten Pornohefte oder bunte Blätter mit Bildern von Prinz Charles, den sie allerdings für einen »Amerikanski« halten. An solchen Scherzen, die nur für Zuschauer funktionieren, die wissen, wer Prinz Charles wirklich ist, sieht man dann, für wen dieser Film vor allem gemacht ist. Pittoresk, von einer gewissen gefälligen Niedlichkeit und aufdringlichen Originalität ist das Leben der Nomaden ansonsten: Weil Asa zuvor als Marinesoldat gedient hat, hat er andauernd seinen Matrosenanzug an, und dieser Matrose im gelben Meer der Steppe wirkt dann wie ein Slapstick-Comedian aus den 20er Jahren. Vollends die Zügel schießen lässt der Regisseur im Hinblick auf die Musik: Die Träume vom anderen Leben bündeln sich im Boney M.-Song Rivers of Babylon, der bei jeder unpassenden Gelegenheit aus einem alten Recorder knistert, und auch sonst wird ein bisschen arg viel gesungen und aus dem Off musiziert. So ist Tulpan also alles in allem eine durchaus sympathische, gut gemachte urwüchsige Romanze, aber eben auch ein Paradebeispiel jenes neuen Arthouse-Mainstreams, der die wenigen freien Kinos für schwierigere Bildsprachen, und womöglich relevantere Stoffe verstopft.