H/F/D/CH 2011 · 150 min. Regie: Béla Tarr Drehbuch: László Krasznahorkai, Béla Tarr Kamera: Fred Kelemen Darsteller: János Derzsi, Erika Bók, Mihály Kormos |
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Schweigen, worüber man nicht schreiben kann |
»Jede Epoche muss das Projekt 'Spiritualität' für sich selbst neu erfinden.«
(Susan Sontag: „Die Ästhetik des Schweigens“)
»Ich möchte die Balkanvölker nicht verteidigen, aber ich möchte auch ihre Verdienste nicht verschweigen. Diese Liebe zur Verwüstung, zu innerer Unordnung, zu einer Welt, die einem in Flammen stehenden Chaos gleicht, der sardonische Blick auf erfolgte oder heraufziehende Katastrophen, diese Herbheit, dies süße Nichtstun von Mördern oder an Schlaflosigkeit Leidenden ... Die einzig Primitiven in Europa geben diesem vielleicht einen Ansporn, aber Europa sieht das unweigerlich
als Erniedrigung an. Denn wenn der Süden und Osten nur und ausschließlich abscheulich wären, warum würden wir dann, wenn wir sie verlassen und unsere Schritte in die hiesigen Länder richten, gleichsam einen Fall – wenn auch einen wunderbaren – in die Leere empfinden?«
(Emile Cioran: „Geschichte und Utopie“)
Ein Pferd zieht einen schweren, großen Holzkarren. Das Pferd ist muskulös und schwer, und es hat lange Zotteln, so wie die Pferde auf den Bildern der alten Meister der europäischen Neuzeit. Der Karren ist nicht für Menschen, sondern für den Lastentransport gedacht. Ein Kutscher lenkt ihn, und er peitscht das Pferd, um es anzutreiben. Schneller, schneller! Lauter und lauter tönt die Musik; irgendwie unheilschwanger und doch auch pathetisch, erhaben...
Mit dieser Szene von großartiger Dynamik beginnt der Film. Ihre Wirkung ist schwer zu beschreiben: Denn was man sieht, ist eigentlich banal. Durch die Art, wie alles aufgenommen ist, wie sich die Kamera bewegt, und zunächst auf der Höhe mit dem von rechts nach links rasenden Gaul bleibt, ihn schließlich von vorne zeigt, und durch den Purismus des schwarzweißen Filmmaterials, bekommt sie aber einen eigenartigen Sog.
Es ist dies so ein Filmmoment, über den man dann gern sagt, dass »man ihn selbst erleben« muss. Und es stimmt: Es gibt im Kino immer wieder solche wundersamen Szenen, die spotten jeder Beschreibung. Man muss sie erleben, um ihre Wirkung zu verstehen – Worte helfen da nicht weiter.
Da eine Filmkritik aber ohne Worte nun mal nicht auskommt, ist Bela Tarrs neuester Film Das Turiner Pferd (A Torinói ló) ein Film, der sich womöglich aller Kritik entzieht. Über den man nicht reden kann, sondern nur schweigen. Ob das jetzt eine gute Nachricht ist, ist allerdings noch eine andere Frage.
Immer wieder gibt es in Bela Tarrs Film jedenfalls solche erhabenen Momente: In sich geschlossen, ganzheitlich. Von undurchdringlicher, irgendwie vollkommener Schönheit und innerer Spannung. Dennoch ist Dynamik so ziemlich das letzte Wort, das einem einfällt angesichts dieses Films.
Denn was man in ihm sieht, das ist ein Mann, eine Frau und ein Pferd. Der Mann ist der Kutscher vom Anfang, ein Bauer, dessen Gesichtszüge durch einen ungepflegten, langen Rasputin-Bart weitgehend verborgen sind. Die Frau ist jünger, und wird irgendwann als die Tochter des Bauern erkennbar.
Beide leben in einer kargen, höchst einfachen Holzhütte. Sie sprechen nur das Notwendigste. Sie stehen auf, arbeiten, essen. Sie essen große Kartoffeln, die die Frau kocht, pellen mit bloßen
Händen die Schale von den noch heißen Kartoffeln herunter.
Sie tun das immer wieder, tagaus, tagein, und der Film nimmt sich eine Menge Zeit, uns das auch vorzuführen. Dazwischen gehen sie in den Stall und füttern das Pferd. Sie gehen zum Brunnen vor dem Haus und schöpfen Wasser.
Derweil weht ein Sturm. Er weht stark und immer heftiger.
Irgendwann spannen sie das Pferd an, doch der Sturm ist schon zu heftig. Das Pferd verweigert seinen Dienst, und wird wieder abgespannt und in den Stall zurückgeführt.
Irgendwann kommen andere Menschen. Sie nehmen Wasser aus dem Brunnen »Dreckige Zigeuner« schimpft der Bauer, droht mit der Axt, verjagt sie und wird von ihnen verflucht.
Irgendwann kommt Besuch. Ein Nachbar, er redet und redet und redet und trinkt mit dem Bauer.
Das ganz normale Leben, könnte man sagen.
Es passiert nichts, könnte man auch sagen. Das muss nicht einmal ein Widerspruch sein.
Es ist ein Abgrund an Primitivität und Eintönigkeit, zu deren Zeugen uns der Film macht.
Wie sieht man das alles? Man sieht es in nur 29 Einstellungen, in 146 Film-Minuten – das bedeutet, das im Durchschnitt ziemlich genau alle fünf Minuten ein Filmschnitt erfolgt. Dass wir also über zwei Stunden lang jeweils fünf Minuten lang auf dasselbe Bild schauen.
Das ist in einer Zeit, in der im Mainstream des Hollywoodkinos ein Film oft über 500 Mal geschnitten wird, von unfassbarer Langsamkeit, eine visuelle Attacke auf unsere Sehgewohnheiten. 29 Einstellungen, das
ist wie 29 Gemälde. Langsam bewegen und verändern sie sich. Und weil alles seine Zeit dauert, erscheint jede Veränderung, jede kleine Verschiebung von immenser Bedeutung zu sein.
Gut so, könnte man sagen, das lehrt und lässt uns neu sehen. Pädagogischer Firlefanz könnte man auch sagen, die sadistische Haltung eines Regisseurs, der in seinen Zuschauern nicht gleichberechtigte Partner sieht, sondern Untertanen.
Müssen wir uns das angucken? Auf keinen Fall. Es stimmt nämlich nicht, dass man sich auf alles einlassen muss, bloß weil es existiert, das man jeden Unsinn ausprobieren und mitmachen muss, nur weil er einmal da ist.
Sollten wir es angucken? Vielleicht... Nein: Unbedingt. Denn Das Turiner Pferd ist, egal, was wir von ihm mitnehmen, eine beispiellose Kinoerfahrung.
Allemal ist es eine Zumutung. Eine Zumutung, die prächtig und genau photographiert wurde vom deutschen Kameramann Fred Kelemen. Und trotzdem eine Zumutung, aber eben eine prächtige und als Erfahrung höchst nützliche, lehrreiche.
Man könnte allerdings auch sagen: »Seht nur, er hat ja gar nichts an, der Bela Tarr!« – des Kaisers neue Kleider, Gesten einer Avantgarde, die sich überlebt hat und längst vergangen ist. An die uns dieser Film erinnert, die er – womöglich ein letztes Mal? – feiert und hochleben lässt.
Dieser Satz ist kein Affront, sondern eine Feststellung. Traurig, resignativ, aber auch voller Hoffnung auf das Neue, das früher oder später kommen wird. »Die Kunst« schreibt Susan
Sontag, »ist ständigen Krisen von Entmystifizierung unterworfen.«
Bela Tarrs Das Turiner Pferd ist ein allegorischer Film, eine Allegorie auf alles und nichts.
Er ist ein Abgesang auf das Kino, auf das alte, prädigitale, analoge, das gerade verschwindet: Dieser Film ist Stummfilm, Schwarzweißfilm, Film auf prächtigem scharf konturiertem 35-Millimeter-Material.
Das neue digitale Bild ist demgegenüber flach und tot. Das beweist, wenn es denn eines Beweises bedurft hat, auch dieser Film.
Er ist ein Film über jenen Gaul, dem sich der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche am 3. Januar 1889 in Turin um den Hals warf, bevor er dem Wahnsinn verfiel, wie der im Off gesprochene Einführungstext anfangs verkündet. Zur Hälfte führt das in die Irre: Denn Nietzsche kann man hier gleich wieder vergessen. Die Themen seiner Philosophie aber wird man zum Teil wiederfinden: Die ewige Wiederkehr des Gleichen, den Untergang der Kultur, die Apokalypse.
Das Turiner Pferd ist auch ein apokalyptischer Film. Unterteilt in sechs Tage erlebt man wie die Schöpfungsgeschichte quasi rückwärts geschrieben und zurückgedreht wird. Eine negative Genesis.
Und so ist dieser Film auch ein nihilistischer Film. In dem der Nihilismus des Erzählten zur Form wird.
Man kann das auch positiver sagen: Er lässt keinen kalt.
Kein Film, der noch am Dialog mit den Zuschauern interessiert ist. Sondern ein autoritärer Film, einer der Gefolgschaft verlangt, oder eben Widerstand. Der nicht begeistern und mobilisieren will, nicht überreden und überzeugen. Einer, der den Glauben und die Unterwerfung verlangt.
Und hier muss die Filmkritik schweigen, denn hier beginnt die Mystik.
»Nur im Schatten verbrauchter Gottheiten kann man frei atmen.«
(Emile Cioran: „Die verfehlte Schöpfung“)