Italien/F 2016 · 116 min. · FSK: ab 12 Regie: Paolo Virzì Drehbuch: Paolo Virzì Kamera: Vladan Radovic Darsteller: Valeria Bruni Tedeschi, Micaela Ramazzotti, Valentina Carnelutti, Tommaso Ragno, Bob Messini u.a. |
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Diese Freiheit nehm ich mir: die rauchende Gräfin |
»Willst du da raus? Denk dran, wir sind in Italien!« Italien, vor diesem Land wird gewarnt – zumindest in Paolo Virzìs neuestem Film Die Überglücklichen. Es folgt der Ausbruch aus einem psychiatrischen Pflegeheim, inszeniert als furioses Roadmovie, Kulisse ist das Italien in der Ära nach Berlusconi. Große Geldscheine, Glückspillen und schweres Gehänge sind hier immer noch die Eintrittstüren der Gesellschaft, die kalt und ungerecht ist, ohne innere Werte, Italien ein Land, in dem selbst die Großfamilie nichts mehr gilt.
Lange war Nanni Moretti nach dem Boom des italienischen Kinos in den 50er und 60er Jahren einer der wenigen Regisseure Italiens von Rang. Lange galt: Nehmt Reißaus vor dem italienischen Film. Dies ist seit einiger Zeit vorbei; Filmemacher einer neuen Generation, Paolo Sorrentino, Matteo Garrone, Paolo Virzì und die junge Alice Rohrwacher haben den italienischen Film mit Verve erneuert, jeder auf seine Art, jeder mit einer großen kinematographischen Vision. Virzì ist von allen derjenige, der sich am ausdrücklichsten um den Zustand seiner Nation kümmert, seine Filme sind Kommentare, Parabeln und Seismographien, mit figurennahen Geschichten, wie zuletzt Il capitale umano (Die Süsse Gier).
Seinen neuen Film hat Virzì La pazza gioia genannt, »die verrückte Freude«. Diese bricht an, als ein Frauengespann in der Tradition von Thelma & Louise eine existentielle, anarchische Fahrt unternimmt. Nur dass sie, Beatrice und Donatella, am Ende das Leben zurückerobert haben werden. Ein glückliches Ausbrechen also, das Virzì als abgedrehten Humanismus zeigt, voller Lebensfreude gegen die emotionale Kälte des Landes und seiner Menschen.
Virzì hat für seinen Film recherchiert, ist in die Psychiatrien gegangen und hat den grauen Alltag der Administration und Verwahrungsanstalten kennengelernt; der dokumentarisch verankerte Hintergrund schwebt als Drohkulisse über den Figuren seines Films. Dieser psycho-sozialen Realität hält Virzì die Villa Biondi entgegen, ein psychiatrisches Pflegeheim, das in der Art einer großen Wohngemeinschaft funktioniert, mit einem Personal, das die Patienten zumindest vesuchsweise ernst und ihre psychischen Defekte dann auch wieder leicht wie Marotten nimmt. Auch die Villa Biondi wurde nach dem Vorbild real existierender, alternativer Heilanstalten entworfen und ist damit eine jener Heterotopien, wie sie Foucault beschrieben hat, »wirkliche Orte (…) Gegenplazierungen oder Widerlager, (…) gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können« (nachzulesen in seinem Aufsatz »Andere Räume«). Die Villa Biondi ist solch ein verortbarer »anderer Ort«, an dem sich die Utopie als eine real gegebene Möglichkeiten zeigt. Dazu gehört auch auszubrechen und nach vielen Tagen und Abenteuern, ohne Sanktionen befürchten zu müssen, zurückzukehren.
Mit diesem Ort außerhalb der gesellschaftlichen Normen und Systeme ist die Gräfin Beatrice verbunden, zugleich Insassin und Stifterin der Villa. Valeria Bruni Tedeschi erhebt sie mit schauspielerischer Verve zur allegorischen Figur: Seidenkleid, Stola und ein chinesisches Schirmchen sind ihre Insignien, gehobene Manieren, eine gepflegte Sprache und eine stilvoll zelebrierte Sucht nach Opiaten ihre Begleiterscheinungen. Das alles wird gegen den Strich gebürstet von einem Draufgängertum, das sich nur der Adel erlauben mag und alle anderen, die keine gesellschaftliche Übereinkunft für sich akzeptieren, wie eben zum Beispiel die Irren. Bruni Tedeschi spielt dies alles mit sichtbarer Lust, als wäre die komödiantische Rolle mit dem hörbar anarchischen Unterton ein Befreiungsschlag für sie selbst. Gegenpart der Gräfin ist die der Unterschicht entstammende, drogenabhängige Donatella Morelli, die mit scheuen dunklen Augen wie ein von der Gesellschaft verfolgtes Reh in der kunterbunten Villa eintrifft, dem grauen psychiatrischen Alltag gerade erst entkommen. Micaela Ramazzotti, die schon in Virzìs Das ganze Leben liegt vor dir als prekäre Telefonistin zu sehen war, spielt sie, und sie inkarniert die ganze soziale Aufrichtigkeit, die sich Virzì für seine verrückte Ausbrecher-Geschichte wünscht.
Die Überglücklichen ist auch eine Verbeugung vor dem Kino Federico Fellinis; immer wieder leuchten Zitate aus Julia und die Geister und La Strada auf, im Besuch bei einer Wahrsagerin, mit dem chinesischen Schirmchen der Beatrice, mit dem Abgesang auf die hohe Gesellschaft, dem Einschlafen der Streunerinnen am Straßenrand. Filmgeschichte und die hohe Schauspielkunst seiner Hauptdarstellerinnnen vereinen sich bei Virzì mit einer pulsierenden Gesellschaftskritik, was das italienische Kino wieder ganz bei sich ankommen lässt.