S/F/N/D 2019 · 77 min. · FSK: ab 12 Regie: Roy Andersson Drehbuch: Roy Andersson Kamera: Gergely Pálos Darsteller: Martin Serner, Jessica Louthander, Tatiana Delaunay, Anders Hellström, Jan Eje Ferling u.a. |
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Die Tragödien akzeptieren... | ||
(Foto: NEUE VISIONEN) |
Blasse Gesichter, lakonische Dialoge, Problemchen, Krisen und Katastrophen. Wir befinden uns wieder in der Welt von Roy Andersson. Nachdem er 2014 mit Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach seine Trilogie über das Menschsein beendete, kommt nun mit Über die Unendlichkeit sein neuer Film in die Kinos. Eins vorweg: Stilistisch hat er
nichts geändert. Auch hier regiert wieder die surreale Tristesse. Aber will man eigentlich etwas anderes von ihm sehen? Eben.
Gleich die erste Szene könnte alles oder nichts bedeuten. Ein Paar sitzt auf einer Bank. Es fällt der Satz: »Es ist schon September«. Schnitt. Nächste Szene. Ein Mann schleppt seine Einkäufe eine Treppe hoch und erzählt dem Publikum, er habe hier letztens einen alten Freund getroffen, der seinen Gruß nicht erwidert habe. Eine Beleidigung, die bereits mehrere Jahre
zurückliegt, steckt ihm anscheinend noch in den Knochen. Just in diesem Moment kommt eben dieser alte Freund wieder seines Weges. Wieder ein Gruß, wieder Schweigen. Schnitt. Nächste Szene.
Was alles zusammenhält, ist eine Erzählerin, die diese Szenen einleitet. Wer sie ist, bleibt ungewiss. Ein Engel? Eine Außerirdische? Sie schwebt über allem und bleibt objektive Beobachterin – genau wie die Zuschauer. Sie werden Zeugen eines Potpourris menschlichen Leidens. Da ist ein Priester, der seinen Glauben verloren hat und vom Kreuzigungstod träumt, ein Todeskandidat, der um sein Leben bettelt, ein Ehedrama in der Großmarkthalle. Dazwischen Hitler in seinem Bunker und die geschlagene Wehrmacht auf dem Weg ins Gefangenenlager. Es scheint, als habe Roy Andersson alles auf die Essenz seiner bisherigen Filme reduziert. Dadurch ist der Grundtenor noch pessimistischer geworden. Der absurde Humor, der sonst durch die unnatürliche Steifheit seiner Figuren erzeugt wurde (und mitunter an einen Valium-durchtränkten Loriot-Sketch erinnert), taucht nur noch hier und dort auf. Beispielsweise, wenn ein Kellner das Weinglas seines Kunden bis zum Überlaufen füllt und mit derselben Gleichgültigkeit die Sauerei wieder aufwischt. Insgesamt regiert jedoch eine melancholische Tristesse, die bei aller künstlichen Stilisierung der Bilder unglaublich hart und realistisch wirkt.
Aber halt, da ist doch noch mehr! Immer wieder kommen Momente der Leichtigkeit auf, zwar optisch genauso unterkühlt wie der Rest, aber doch kurze Wärmeschauer erzeugend. Drei jugendliche Mädchen tanzen zu einem alten Schlager auf der Straße, ein Vater bindet seiner Tochter die Schuhe und lässt sich dabei auch vom strömenden Regen nicht stören, eine Frau wartet an einem verlassenen Bahnhof und wird unerwartet doch abgeholt. Auch hier handelt es sich um Trivialitäten, aber was erwartet man eigentlich? Kommen die schönen Momente denn immer laut tönend daher? Meist bekommt man sie doch gar nicht mit, oft genug zeigen sie sich, indem einfach alles läuft, wie es soll. Natürlich gehen sie zwischen all den großen und kleinen Schmerzen unter.
Diese Momente zeigt Roy Andersson wie kein Anderer. Deshalb ist es auch zweitrangig, ob er nun in der stilistischen Stagnation angekommen ist oder nicht. Immer noch berührt er so viele Saiten auf einmal, zeigt die ganze Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens, fragt ganz grundsätzlich, wer wir zwischen all unseren täglichen Ritualen noch sind. Wenn man im Bus nicht mehr weinen darf (»Aber warum kann er nicht einfach zu Hause traurig sein?«), was soll das dann alles noch?
Dann ist da noch eine Szene, die erst so ganz anders ist. Ein Paar liegt sich in den Armen und schwebt über die Trümmer des ausgebombten Köln. Eine Schlüsselszene des Films, die zeigt, wie nah Schönheit und Tragik zusammenliegen können. Wenn man es so will, fasst sie den ganzen Film zusammen. Das ist vielleicht nah am Kitsch, aber irgendwie gehört der ja auch dazu.
Und natürlich ist alles leichter gesagt als getan: Die Tragödien akzeptieren, die kurzen Glücksmomente schätzen lernen, sich nicht unterkriegen lassen. Über die Unendlichkeit ist natürlich keine Anleitung, die verrät, wie das alles gehen soll. Wer will das auch sehen? Vielleicht sollte man sich aber eine Szene öfter ins Gedächtnis rufen: Einer Frau bricht der Absatz eines Schuhs ab. Sie zieht die Schuhe aus und geht weiter. Schnitt. Nächste Szene.
Köln in Trümmern – die bildgewaltige Kamerafahrt über das schneebedeckte, im Feuersturm des Weltkriegs zerstörte Köln des Kriegsendes, als nur der Dom noch intakt schien, gehört zu den eindrucksvollsten, zugleich überraschendsten Momenten in Über die Unendlichkeit.
Der neueste Film von Roy Andersson erzählt keine geschlossene Handlung, sondern reiht im einmaligen Stil des Schweden Szenen aneinander, Vignetten der Depression.
Ein Paar fliegt in den Wolken, einfach so, ohne Flügel, mit leicht angewinkelten Körpern. Ein andermal sieht man ein Paar im Park auf zwei Bänken sitzen. Sie sind nicht mehr jung, sondern knapp 60 Jahre alt, sie wenden uns den Rücken zu und blicken in die Ferne über eine weiter unten gelegene Großstadt hinweg. Nach einer Weile sagt die Frau: »Es ist schon September.« Er antwortet: »Mhmm...«
So geht es weiter. Inszeniert in jener speziellen Ästhetik, für die der Schwede Andersson berühmt ist: Das Kulissenhafte wird hier offen ausgestellt, genauso wie Tricks, wie die digitalen Vögel am Himmel, Reiher, Schwäne und Enten.
Fast alles ist erkennbar im Studio gebaut. Andersson liebt die Kontrolle, er kontrolliert seine Bilder und seine Szenerien genauso, wie die Behörden die Menschen, für die sie zuständig sind. Die Räume und auch der Himmel sind in bestimmten Farben
gehalten: Grau in Grau, Mauve, Eierschalenfarben, alles ein bisschen schmutzig, ein bisschen heruntergekommen – sozialpartnerschaftliche Ästhetik.
Die Räume, die wir sehen, sind selten private, sondern öffentliche Räume: Ein Park, ein Restaurant, eine Straße, ein Bahnhof, eine Arztpraxis, eine Eckkneipe. Passagen, dritte Räume, Funktionsräume – dass wir Zuschauer darüber überhaupt nachdenken, ist der Effekt von Anderssons einmaligem Kino.
Anderssons Kino ist nahe der Installationskunst: Slapstick, mehr Jacques Tati, als Monty Python. Wiederholung und Running Gags. Ein Kreis, der sich schließt.
Es folgen weitere Szenen: Ein Mann, ca. 60 Jahre alt, erzählt, er habe in der Stadt einen ehemaligen Mitschüler wiedergetroffen und erkannt. Ein alter Mann im Restaurant. Er ist der einzige Gast, ein Kellner bedient ihn, er bestellt Rotwein, der Rotwein kommt, das Ritual des Weinkostens... Dann wird der Wein eingeschenkt und der Kellner macht das Glas nicht nur voll, er schenkt einfach den Wein immer weiter ein, so dass er überläuft und die weiße Tischdecke vollkleckert – für ein paar Augenblicke hatte der Kellner sich in Gedanken verloren.
Ein Priester geht zum Analytiker, glaubt nicht an Gott, trinkt den Messwein alkoholisiert und ruft dann: »Mein Gott warum hast du mich verlassen? Mein Gott warum hast du mich verlassen?«
Ein Mann trägt ein Kreuz durch die Straßen von Stockholm. Zwei oder drei Schergen mit Peitschen treiben ihn an, zwingen ihn weiterzumachen, es ist wie der Weg nach Golgatha, aber heute in einem modernen Sozialstaat, um ihn herum der Pöbel, der Mob »kreuziget ihn, kreuziget ihn«. Sozialhilfeempfänger, das sagt uns deren Kleidung.
Es geht also auch um den Hass eines Mobs, um die Vielen, die einen unbeliebten, unbequemen Einzelnen ausschließen wollen – und deren Votum immer richtigliegt, weil sie sich verletzt fühlen, weil ihre »Stimme gehört werden soll«.
Alle Menschen hier wirken müde; manchmal reden sie zur Kamera. Die Menschen bei Andersson lachen kaum. Sie scheinen alle auf irgendetwas zu warten. Den Tod?
Was soll das alles? Es sind Vignetten der Depression, die sich mit Slapstick-Witz zu einem gutgelaunten Reigen über die Traurigkeit des Lebens und der Verzweiflung mischen.