Umberto Eco – Eine Bibliothek der Welt

Umberto Eco: La biblioteca del mondo

Italien 2022 · 80 min. · FSK: ab 0
Regie: Davide Ferrario
Drehbuch:
Kamera: Andrea Zambelli, Andrea Zanoli
Schnitt: Christina Sardo
Filmszene »Umberto Eco - Eine Bibliothek der Welt«
Man muss wissen, wo die Bücher stehen…
(Foto: mindjazz)

Das Labyrinth des Umberto Eco

Zum Auftakt der Buchmesse ein Film über die Lust am Lesen und am Buch: Davide Ferrarios Dokumentarfilm ist eine Hymne auf das Universum der Bibliotheken und des Wissens

»Music Hall not poetry is a criticism of Life.«
James Joyce
(zitiert nach Umberto Eco »Apoca­lyp­tiker und Inte­grierte«)

Umberto Eco, der Philosoph, Semiologe und Schrift­steller aus Bologna, starb bereits 2016, steht aber in dem Doku­men­tar­film von Davide Ferrario noch einmal auf. Er bewegt sich mit größter Selbst­ver­s­tänd­lich­keit und Vertraut­heit durch die Räume einer schier unend­li­chen Biblio­thek, die seine Studi­en­zimmer sind, und die mehr als 30.000 Bücher, darunter über tausend höchst seltene biblio­phile Bände zu oft eini­ger­maßen merk­wür­digen Themen enthält. Die Bücher sind nach einem spezi­ellen System geordnet, das nur dem verstor­benen Meister selbst bekannt war.
Schon dies erinnert uns sofort an das kollek­tive Gedächtnis jener »Biblio­thek von Babel«, über die einst der Argen­ti­nier Jorge Louis Borges schrieb, und die Umberto Eco in seinem berühm­testen Buch »Der Name der Rose« aufgriff.

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Im Doku­men­tar­film »Umberto Eco – Eine Biblio­thek der Welt« bereist der italie­ni­sche Regisseur Davide Ferrarios stell­ver­tre­tend für das Kino­pu­blikum die verwin­kelte Gänge von Umberto Ecos Privat­bi­blio­thek, wo sich über 30.000 zeit­genös­si­sche und 1.500 antike Bücher wie Schätze anein­an­der­reihen, und führt in einen magischen Kosmos des Wissens und der Erin­ne­rungen. Ferrario lernte Umberto Eco vor etwa 30 Jahren kennen, beide freun­deten sich an und für die Biennale von Venedig reali­sierten Eco und Ferrario zusammen eine Kunst­in­stal­la­tion. Dafür entstanden seiner­zeit zahl­reiche Film­auf­nahmen. Auf diesen Schatz greift Ferrario jetzt zurück.

Dazu streut er zahl­reiche Ausschnitte aus Inter­views ein, die Umberto Eco in den letzten Jahren gegeben hat, sowie aus Vorträgen und Symposien. Sie zeigen die Band­breite der Inter­essen dieses italie­ni­schen Multi-Intel­lek­tu­ellen, der vor allem für den Roman bekannt war, den er selbst als den schlech­testen seiner sechs Romane ansah: »Der Name der Rose«. Zugleich kommen­tiert der Autor das, was aus seiner Sicht das Geheimnis des Welt­erfolgs dieses Buches gewesen ist: »Der Krimi ist so beliebt, weil er einem tief in uns verwur­zelten Bedürfnis entspricht: dieses ist dasselbe wie das Religiöse«: »Ein 'Whodunnit' – auch die große meta­phy­si­sche Frage lautet: 'wer hat das getan?' Jemand hat die Welt geschaffen und genau das ist die Frage des Krimis.«

Ande­rer­seits, auch das kommt in dem Film zur Sprache, hat Ecos für ihn selbst fatales wie für andere faszi­nie­rendes Buch mit seinem Welt­erfolg zumindest eine sehr erfreu­liche Neben­wir­kung gehabt: Der bisher kleine Kreis welt­weiter Leser, der sich bis in die 1980er Jahre hinein für italie­ni­sche Gegen­warts­li­te­ratur und für Philo­so­phie ais Italien inter­es­sierte, hat sich durch das Buch in kürzester Zeit rasant vergrößert.

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Ecos Werk steht dem von Roland Barthes am nächsten; beide sind die Zeichen­leser unserer Alltags­kultur, Spuren­leser der Konsum­welt, sie sind Scouts durch den Dschungel des Banalen. Auch Eco inter­es­sierte sich für die »Mythen des Alltags«.

Die beiden besten theo­re­ti­schen Texte von Eco sind nach wie vor »Das offene Kunstwerk« (von 1962, dt. 1977) und jene Aufsätze, die 1964 unter dem Titel »Apoka­lyp­tiker und Inte­grierte« veröf­fent­licht worden, und auf Deutsch 1984 leicht verändert heraus­kamen. Mit dieser Fest­stel­lung soll nichts gegen spätere Texte gesagt sein, sondern nur dass Eco hierin die philo­so­phi­sche Grundlage gelegt hat für alles, was später kam.

Im ersten Werk skizziert Eco Kunst als ein Möglich­keits­feld und gebraucht dazu bereits den heute sehr modischen Begriff der »Ambi­guität«. Es geht ihm darum, klar­zu­ma­chen, dass die Kunst der Moderne im Gegensatz zur klas­si­schen Kunst dem Rezi­pi­enten – dem Publikum, Leser oder Zuschauer – nicht länger vorschreibt. wie sie wahr­ge­nommen werden will, sondern ihm einen Raum öffnet, in dem er sich frei bewegen kann und unter Umständen sogar selbst Akteur, also Teil des Kunst­werks wird, mindes­tens aber dem Kunstwerk selbst einen Sinn verleiht, der diesem nicht ohne den Rezi­pi­enten eigen ist. Gewis­ser­maßen wird der Sitz der Deutungs­macht verlagert vom Künstler zum Publikum.
Das stimmt zwar am Ende nur halb, denn es bleibt der Künstler, der den Rahmen der Ambi­guität festlegt und der sich vor allem auch dem Versuch verwei­gern kann, dass sein Werk überhaupt als ein offenes wahr­ge­nommen werden kann. Aber umgekehrt kann man auch Bücher aus anderen Zeiten und Zusam­men­hängen nun plötzlich als »offene« lesen.

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Das zweite Buch widmet sich dem Gegen­stand der Methode: Der Massen­kultur. Als dieses Buch 1964 in seiner ersten Auflage erschien, wandte es erstmals die Instru­mente einer strengen lite­ra­tur­wis­sen­schaft­lich-struk­tu­ra­lis­ti­schen Unter­su­chung auf »banale« Themen wie Comics, Schla­ger­lieder und populäre Belle­tristik an, was in den Augen vieler geradezu unge­heu­er­lich war: Mit der Zeit wurde das Gegen­satz­paar Apoka­lyp­tiker und Inte­grierte ein Schlag­wort für den syste­ma­ti­schen Gegensatz zweier Zugangs­weisen zur Massen­kultur; Stell­ver­tre­ter­be­griffe für die Posi­tionen Herbert Marcuses und die von Marshall McLuhan.

Obwohl Eco der Kritik der Frank­furter Schule und Antonio Gramscis an der Populär­kultur an einigen Stelle nahe steht, ist er in dieser Gegenü­ber­stel­lung ganz klar ein »Inte­grierter«, einer, der, »während die Apoka­lyp­tiker gerade dadurch überleben, dass sie Theorien über den Zerfall ausbilden ... ihre Botschaften in unbe­fan­gener Leich­tig­keit, tagtäg­lich auf allen Ebenen« erzeugen und über­mit­teln.

Denn: »Diese Welt nun ist keine Welt für den Über­men­schen. Sie ist vor allem die unsere. Sie entsteht mit dem Aufstieg der subal­ternen Klassen zum Genuss der kultu­rellen Werte und mit der Möglich­keit kultu­relle Güter durch indus­tri­elle Verfahren herzu­stellen. ... Das Universum der Massen­kom­mu­ni­ka­tion ist unser Universum.«

Egal ob Romane oder Sach­bücher – Umberto Ecos Werke waren immer auch intel­lek­tu­elle Märchen­er­zäh­lungen, gut erzählte phan­ta­sie­volle Geschichten und Parabeln auf den modernen Menschen. Zugleich war Eco ein Menschen­freund: Dieser Autor belehrt die Leser nicht, er inter­pre­tiert auch sein eigenes Werk nicht selber. Er wusste, dass es letztlich auf den Leser selbst ankommt. Und Eco hatte Vertrauen in den Leser. Vergleiche das »Offene Kunstwerk«.

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Ferrarios Film ist eine umfas­sende, zugleich ernste und unbe­schwerte Darstel­lung seines Gegen­standes. Er nähert sich der Welt Ecos mit einem Stan­dar­dü­ber­blick über dessen Werke und deren Haupt­themen und dies aus der Perspek­tive seiner Sammlung aus Büchern und Manuskripten, die im Laufe der Jahr­zehnte weit­rei­chender intel­lek­tu­eller Tätigkeit sorg­fältig zusam­men­ge­stellt wurden. Das Zentrum dieses Biblio­theks­schatzes bestand nicht, wie man erwarten könnte, aus den Werken eines der weithin gefei­erten Köpfe der Mensch­heits­ge­schichte, sondern aus den Büchern unbe­kannter, weit­ge­hend verges­sener europäi­scher Intel­lek­tu­eller des 17. und 18. Jahr­hun­derts.

Warum ist das für Eco so inter­es­sant? Was inter­es­siert ihn an Werken, die selbst Experten vergessen haben? Zum einen war Eco ein Eklek­tiker, ein klas­si­scher Post­mo­derner, der davon überzeugt war, dass nichts wirklich originell ist, und echte Origi­na­lität eine Sache für »Dummköpfe« ist

Für Umberto Eco ist die Biblio­thek eine Metapher für die Welt selbst, das mate­ri­elle Symbol des kollek­tiven Gedächt­nisses. Eine Metapher auf das Wissen Gottes. Die geschei­terte intel­lek­tu­elle Anstren­gung vergan­gener Jahr­hun­derte ist darin gleich viel wert, wie die wich­tigsten Bücher der Mensch­heits­ge­schichte. Nach Dante und Borges sieht Eco die Biblio­thek als Anfang und Quelle des Wissens, als ein Labyrinth des mensch­li­chen Geistes, der versucht, die Realität in ihren vielen Dimen­sionen zu erfassen. Die Funktion des Gedächt­nisses besteht darin, zu bewahren und auszu­wählen, was man behalten und was man vergessen will. Das wahllose Sammeln aller Dinge erschwere das Denken und Sinngeben sehr. Aller­dings ist gerade seine riesige Biblio­thek, die aus weit mehr Werken besteht, als ein Mensch je lesen könnte, ein Beleg, dass auch Bücher gesammelt werden können, ohne je gelesen zu werden.

Eco mokiert sich auch darüber, dass manche Texte, die erst 20 Jahre alt sind, aber nur auf einer Compu­ter­dis­kette gespei­chert wurden, heute schwerer zugäng­lich sind, als mittel­al­ter­liche Folianten. Die Werke werden immer flüch­tiger. Sie vermehren sich sofort, aber geraten ebenso schnell in Verges­sen­heit.

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Der Filme­ma­cher insze­niert schließ­lich auch sechs Schau­spieler an verschie­denen Orten, die Auszüge aus Werken Ecos sprechen, lesen oder rezi­tieren und die gelehrte und zugleich sehr vers­tänd­liche Sprache dieses Autors zum Leben erwecken. Diese kurzen, von Carl-Orffs Musik beglei­teten Ausflüge in die innere Biblio­thek Ecos dienen auch dazu, mehrere Biblio­theken vorzu­führen, an denen Bücher als Hüter des mensch­li­chen Gedächt­nisses zur Freude und zum Glück heutiger und zukünf­tiger Leser­ge­ne­ra­tionen aufbe­wahrt werden.

Dieser Film ist eine doppelte Hymne auf das Universum der Bücher. Einer­seits kann man Eco ohne seine Biblio­thek nicht verstehen. Dies war die Welt, in der seine Ideen, Geschichten und Gedanken geboren wurden. So kann man Ecos inspi­rie­rende Gedan­ken­welten in ihrer Tiefe erkunden.

Für Umberto Eco bedeutete Mensch­sein, Geschichten zu erzählen, und Lektüre bedeutete, lebendig zu sein. Wir leben mit Geschichten. Sie leiten uns und erklären die Welt.

Ursprüng­lich sollte der Film lediglich die Biblio­thek vor ihrer Übergabe an den italie­ni­schen Staat und dem damit verbun­denen Umzug doku­men­tieren. Doch daraus entwi­ckelte sich weit mehr.

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So ist dies gleich­zeitig auch eine Reflexion über die Bedeutung von Büchern und Biblio­theken in unserem Leben und eine Vernei­gung vor dem uner­mess­li­chen Erbe, das sie für zukünf­tige Gene­ra­tionen bewahren. Und die Hymne auf einen magischen Kosmos des Wissens und der Erin­ne­rungen.

Der Film, der in Kapiteln und einen Epilog unter­teilt ist, lädt uns auf sehr zugäng­liche Weise zu einem leben­digen ersten Kontakt mit diesem Denker ein, dessen Ansichten über das Internet und über Verschwörungs­theo­rien bis heute höchst zeitgemäß und notwendig scharf formu­liert sind.

So ist dies zunächst einmal eine Anregung, das Werk von Eco wieder­zu­ent­de­cken. Zugleich ist der Film mehr als nur die Erin­ne­rung an einen populären Schrift­steller und umtrie­bigen Denker, Kritiker des Zeit­geists des Digitalen Zeital­ters und Bücher­narren, sondern dies ist auch sehr passend zur Leipziger Buchmesse in dieser Woche eine Hommage an das Buch und die Freuden des Lesens.

Bücher­würmer aller Länder, vereinigt Euch!