Ungarn/D/S 2014 · 121 min. · FSK: ab 12 Regie: Kornél Mundruczó Drehbuch: Kornél Mundruczó, Viktória Petrányi, Kata Wéber Kamera: Marcell Rév Darsteller: Zsófia Psotta, Sándor Zsótér, Lili Horváth, Szabolcs Thuróczy, Lili Monori u.a. |
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Die Hunde sind hinter dir her |
Eine Großstadt mitten am Tag. Sie wirkt menschenleer, wie eine Geisterstadt. Verlassene Autos mit offenen Türen sind zu sehen, subtile Anzeichen irgendeines unbeschreiblichen Geschehens, einer Katastrophe vielleicht?
Nur ein einsames Mädchen ist, da, etwa zwölf, dreizehn Jahre alt. sie fährt auf dem Fahrrad durch die Straßen. Die Kamera zeigt dies in Zeitlupe. Dann plötzlich sieht man aus den Seitenstraßen ein Rudel von bestimmt dreißig, vielleicht viel mehr Hunden kommen.
Mit hohem Tempo laufen sie dem Mädchen hinterher, kommen immer näher auf sie zu.
Dazu erklingt Orchestermusik, Liszts »Ungarische Rhapsodie«
Das Bild wird schwarz. Ein rätselhafter mythologisch wirkender und visuell großartiger Anfang für einen Film, der insgesamt rätselhaft und mythologisch wirkt.
Erzählt wird im Folgenden – die Filmhandlung springt ein paar Tage zurück in der Zeit – die Geschichte dieses Mädchens, namens Lili, und ihres Hundes. Dieser Hund heißt Hagen, wie die vielleicht interessanteste Figur aus dem Nibelungenlied. Dort ist Hagen der »treue Hagen«, zugleich aber der Verräter schlechthin. Eine ambivalente Figur. So auch hier.
Sie beide sind die besten Freunde. Als Lilis Mutter für einige Monate nach Australien verreist, kommt Lili in die Obhut ihres Vaters, der getrennt lebt. Der Vater ist autoritär und unnahbar, und Hagen ist bei ihm nicht willkommen – schon weil der Hund nicht reinrassig ist, sondern ein Bastard, wie ihn der Vater abschätzig nennt. Der Vater setzt den Hund gegen Lilis Willen auf der Straße aus. Nun beginnt etwas, das den Film zwischendurch wie einen Disney-Movie, eine Art 101 Dalmatiner für Erwachsene
Hagen muss fliehen, er wird obdachlos, Lili sucht ihn verzweifelt. Aber Hagen landet in Tierheimen, bricht aus, und landet in einer Hundekampfschule – und irgendwann sammelt er andere Hunde um sich, und formt eine Hunderebellenarmee, die einen großen Aufstand gegen die Menschen organisiert.
Filmisch ist das schon mal wunderbar gemacht. Ein nie dagewesenes Bild reiht sich ans nächste, der Zuschauer staunt, was mit lebendigen Tieren ohne digitale Tricks im Kino möglich ist. Großartige Tierdressuren machen aus den Hunden veritable Mitspieler.
So gelingt dem ungarischen Regisseur Kornél Mundrúczo mit »White God« ein exzellenter sehr origineller Film. Aber White God, der auf deutsch etwas arg vereinfachend in den Anglizismus Underdog umgetauft wurde, ist mehr. Der Film erzählt von unser Gegenwart und der Wiederkehr des Verdrängten
Diese Geschichte vom Aufstand der Tiere ist eine Metapher auf Hass und Ausgrenzung, auf Rache und Neubeginn der Geschichte. Sie ist optimistische Utopie und pessimistische Dystopie in einem. Die Menschen, jedenfalls die Erwachsenen sind hier unsympathische missmutige Charaktere. Allein die Kinder verkörpern Unschuld.
Natürlich stehen auch die ausgegrenzten, ausgesetzten Tiere für etwas Anderes: Da dies ein ungarischer Film ist und man um die Politik der
rechtskonservativen Orban-Regierung weiß, ist klar, dass mit den Hunden die in Ungarn ausgegrenzten Obdachlosen und Asylbewerber und die oft rassistisch verfolgten Sinti und Roma gemeint sind.
An dieser Aufzählung merkt man aber auch, dass die kritische Stoßrichtung dieses Films nicht allein auf Ungarn zielt. Gemeint ist der Westen als solcher, sind die reichen Wohlstandsgesellschaften mit ihren Lebenslügen. Und eine existentielle Diagnose, die auf noch Grundsätzlicheres zielt: Auf das Verhältnis zwischen Mensch und Natur, das womöglich heillos ins Ungleichgewicht geraten ist.
Mundruzko mischt Melodramatisches mit Elementen des Genre-Kinos und des philosophischen Essayfilms. Auch in dieser Mischung, wie in der Tatsache, dass Hunde im Zentrum stehen, die eigentlichen Hauptdarsteller sind, erinnert Underdog an Alfred Hitchcocks Die Vögel. Wir wissen nicht, was die Tiere über uns wissen, und ob sie überhaupt denken. Aber nach diesem Film können wir fürchten, dass sie viel klüger und mächtiger sind, als wir.
Underdog verknüpft einen Jugendfilm, samt großer Kinder- und Hundeaugen, mit einem Vierbeiner-Gesellschaftsdrama sowie blutigen Horrorfilmpassagen, die einer Vendetta erschreckende Züge verleihen. Auf innovative Weise verquickt der ungarische Regisseur Kornél Mundruczó damit unterschiedlichste Filmgenres zu einem eigenwillig-irritierenden Genremix, der mit pompöser Orchestermusik unterlegt in einnehmenden Bildern von einem heranwachsenden Mädchen und seinem verschollenen Hundegefährten Hagen erzählt. So erweist sich der ungarische Oscarkandidat und Gewinner der prestigeträchtigen »Un Certain Regard«-Sektion in Cannes als eine wagemutige Tour de Force der wandelnden Genrestimmungen, auf die man sich erstmal einlassen muss.
Mit der beeindruckend-beklemmenden Anfangssequenz eines entvölkerten Budapest, durch welches ein verängstigtes Mädchen verloren mit dem Fahrrad radelt, während es von einer entfesselten Hundemeute verfolgt wird, kündigt sich bereits das spätere Grauen an. Scheinen die eröffnenden, erstaunlicherweise mit echten Hunde-Hundertschaften ohne CGI-Effekte auskommenden, Zeitlupenaufnahmen doch mit ihrer Wucht so gar nicht zu der anknüpfenden Story um ein pubertierendes Mädchen und dessen, von ihrem Vater ausgesetzten Hund Hagen zu passen: Wecken die atmosphärischen Eröffnungsbilder doch vielmehr Assoziationen zu bedrohlichen Zombiefilme oder auch zu den jüngsten Planet der Affen-Verfilmungen.
Doch das anfangs herzige Drama um eine entzweite Freundschaft, das beständig zwischen den Suchaktionen des Mädchens sowie der unglaublichen Odyssee des Hundes wechselt, wandelt sich irgendwann zum plakativen Aufstand der Hunde gegen tierunwürdige Verhältnisse und Hundemischlingsgesetze. Damit mutiert Underdog nicht nur zum blutigen Racheepos vor pompöser Soundkulisse, sondern entwickelt sich auch zu einer bitteren Anklage der grassierenden nationalistisch-rassistischen Tendenzen in Ungarn. In seinem aufwühlenden Film spitzt Mundruczó die bestehende ungarische Gesetzeslage in Bezug auf den Hundebesitz dabei allerdings etwas zu, indem er die im Jahr 2012 eingeführte Impf- und Registrierungspflicht zu einer Sondersteuer ummünzt, die speziell für nicht reinrassige Hunde anfällt. So spielt Underdog nicht nur auf die Missstände in Bezug auf die Millionen von streunenden Hunden und der dadurch bedingten florierenden Hundefängerindustrie mit ihren tierunwürdigen Mitteln an, sondern kreiert auch Bezüge zur Diskriminierung von Zuwanderern und insbesondere der Roma in der ungarischen Gesellschaft.
Das Hunde-Drama mit apokalyptischem Horroreinschlag funktioniert dabei sowohl als düstere gesellschaftliche Tierparabel auf geknechtete Minderheiten weltweit, als auch als parallel ablaufende Coming-of-Age-Story, in welchem die 13-jährige Lili (Zsófia Psotta) und ihr Hund unter autoritären und durchtriebenen Erwachsenen zu leiden haben. Während Lili sich in der Konfrontation mit ihrem unverständigen Vater und dem herrischen Orchesterleiter zusehends ihrer möglichen Unabhängigkeit bewusst wird, muss Hagen Hundefängern enteilen, die Methoden eines diabolischen Hundekampftrainers über sich ergehen lassen und schließlich im Tierheim, das mit seinem weitreichenden Einschläferungsprogramm auf Vernichtungslager verweist, mit anderen gefangenen Mischlingshunden auf den nahenden Tod warten – bevor die große Stunde der Rache für die geknechteten Vierbeiner schlägt. Immer wieder übernimmt der Film hierbei die Sichtweise des Hundes und lässt bei Zeiten auch die Kamera die Perspektive des Mischlings einnehmen. Dabei gelingt es dem Regisseur auf außergewöhnliche Weise die unterschiedlichen Gefühlslagen und auch den charakterlichen Wandel des von zwei hervorragend agierenden Tierdarstellern verkörperten Hundeprotagonisten Hagen herauszuarbeiten.
Underdog verblüfft und begeistert mit seinen packenden Massenhundeszenen und einer sich scheinbar überhaupt nicht um Zielgruppenkonformität scherenden Inszenierung zwischen zelebrierter Niedlichkeit und Splattereffekten, welche die Aneinanderreihung von unwahrscheinlichen Zufälligkeiten, die letztlich zum Aufstand der geknechteten Hunde führen, vergessen machen. Auch wenn die Kombination aus wilder Genre-Mixtur und emotionalisierender Inszenierung nicht durchgängig harmoniert, garantiert Underdog zweifelsfrei ein ungewöhnliches Kinoerlebnis.