Japan 2015 · 127 min. · FSK: ab 0 Regie: Hirokazu Kore-eda Drehbuch: Hirokazu Kore-eda Kamera: Mikiya Takimoto Darsteller: Haruka Ayase, Masami Nagasawa, Kaho, Suzu Hirose u.a. |
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Beglückend und berührend |
Es gibt eigentlich keinen Film von Hirokazu Kore-Eda, der in den letzten Jahren nicht überrascht hat. Und obgleich alle Filme mit einer expliziten Ausleuchtung familiärer Verhältnisse beschäftigt sind und nicht nur damit immer wieder auch Referenz auf einen Großmeister des japanischen Film, Yasujirō Ozu, sind, ist ihr beeindruckend implosiver Charakter nie wiederholend – seien es die zurückgelassenen Kinder in Nobody Knows (2004), die familiäre Aufarbeitung des Todes des ältesten Sohnen in Still Walking (2008) oder die Folgen einer Verwechslung der Söhne bei der Geburt in Like Father, Like Son (2013).
In Unsere kleine Schwester wartet Kore-Eda mit einer neue Spielart familiärer Verstrickungen auf: drei Schwestern teilen sich in einer kleinen Hafenstadt in Japan das alte Haus der Familie. Als sie vom Tod des Vaters hören, der die Familie 15 Jahre zuvor verlassen hat, reisen zwei von ihnen zum Begräbnis und lernen ihre Halbschwester Suzu kennen. Spontan bieten sie der 13-Jährigen an, zu ihnen zu ziehen, was Suza auch annimmt.
Wie schon in seinen letzten Filmen lässt sich Kore-Eda auch in Unsere kleine Schwester Zeit für den ersten, offenen dramaturgischen Konflikt. Stattdessen vertieft er sich die ersten 80 Minuten des Films in einer poetischen und gleichzeitig mutigen und kraftvollen Skizzierung des Alltags der Schwestern. Diese Skizzierung wird zum einen der preisgekrönten Manga-Vorlage von Akimi Yoshida gerecht, bereitet aber gleichzeitig auf die eigentliche Textur von Kore-Edas Film vor, der auf der offensichtlichen Ebene zwar den Alltag von vier Schwestern und etlichen Todesfällen in der japanischen Peripherie erzählt. Kore-Eda verzichtet dabei auf die in den letzten Jahren immer wieder auch kritisch reflektierte Marginalisierung der ländlichen Regionen außerhalb der japanischen Ballungsräume, aber sein Schwerpunkt ist ein anderer, sind die großartigen Dialoge, eine immer wieder überraschend, mal emotional, dann wieder analytisch und sinnvoll eingesetzte Filmmusik (Yoko Kanno) und schauspielerische Leistungen, die auf ihre zurückgenommene Art und Weise derartig subtil vibrieren, dass man sich nach jedem Dialog, nach jeder Szene wünscht, sie gleich noch einmal sehen zu können, um die Gesichter der Schwestern – von Haruka Ayase, Masami Nagasawa, Kaho und Suzu Asano verkörpert – möglichst lange mit sich im Alltag zu tragen.
Aber auf einer subkutanen, immer wieder herzzerreißenden Art erzählt Kore-Eda weit mehr als die Geschichte von vier Schwestern. Umso länger man seinen Alltagsbildern folgt, desto öfter nimmt man an buddhistischen Trauer- und Erinnerungszeremonien Teil, wird man Zeuge von menschlichen Entscheidungen, die immer auch berücksichtigen, dass letztlich zwar alles vergeht, aber dennoch an die Stelle alles Vergehenden etwas Neues tritt. Diesen kreativen Prozess – einerseits das Schicksal anzunehmen, es gleichzeitig aber kreativ zu gestalten – variiert Kore-Eda in Unsere kleine Schwester in den unterschiedlichsten Spielarten: bei Liebe und Trennungen, Suzas Begeisterung fürs Fussballspielen, beruflichen Entscheidungen und natürlich beim Sterben und immer wieder auch beim Essen.
Und dann sind da noch die Jahreszeiten, durch die Kore-Eda seine Schwestern schickt. Jahreszeiten, die nicht nur symbolisch für die Stadien des Lebens stehen, sondern wie die Zeit der Kirschblüte auch zeigen, dass es in noch so repetitiven Momenten des menschlichen Alltags immer auch die Chance auf einen Perspektivwechsel gibt. Wie Kore-Eda diese Perspektivwechsel filmisch aufbereitet und seine narrativen Ebenen zusammenführt, ist nicht nur ein intellektueller Hochgenuss, sondern vor allem auch zutiefst berührend.
Am Anfang steht eine Beerdigung. Drei erwachsene Schwestern reisen an den Ort, an dem ihr Vater der sich ihnen längst entfremdet hatte, seine letzten Jahrzehnte verbrachte. Zweimal hat er noch geheiratet, und es stellt sich heraus, dass die drei jungen Frauen in ihren späten Zwanzigern plötzlich noch eine weitere Schwester haben. Suzu ist 14 und ihre unbefangene Art eines in der Provinz aufgewachsenen Mädchens, eine Mischung aus Neugier, Zutrauen und Schüchternheit nimmt die drei viel urbaneren Schwestern im Nu für sie ein. »Wir wissen, dass du ihn glücklich gemacht hast.«
»Warum kommst Du nicht zu uns?« Diese Frage am Bahnsteig zum Abschied löst alles aus. »Wir könnten auch zu viert zusammen wohnen.«
Im Folgenden gibt es kein großes Drama, keine plakativen Konflikte, aber als Zuschauer wird man Zeuge ganz vieler feiner Unterschiede und unscheinbarer Verschiebungen, kleiner Entwicklungen zwischen den Figuren. Denn Suzu zieht tatsächlich nach Kamakura.
Wie wird man eine Familie, wenn man sich nicht kennt? Das ist eine der Leitfragen.
Der Japaner Hirokazu Kore-eda erzählt in Unsere kleine Schwester von einer Patchwork-Familie – wie schon mehrfach zuvor. Etwa in Nobody Knows oder zuletzt in Like Father, Like Son, der erst kürzlich in Deutschland anlief. Unsere kleine Schwesterr, Kore-edas Film nach dem in Japan sehr populären Erwachsenen-Manga »Umimachi Diary« erzählt eine japanische Wahlverwandtschaftsgeschichte. In dieser geht es auch um das jeweilige Verhältnis zum Vater den die drei Älteren nie hatten, die junge Halbschwester dagegen schon – worum sie auch beneidet wird. In Suzus Erzählungen wird dieser Vater plötzlich lebendig: Und er erscheint nicht als verantwortungslos, sondern als großzügig und liebevoll. »He was a kind man. he left us such a lovely sister.«
Eine intime, aber gleichwohl universale Geschichte, harmonisch, und stellenweise idealisiert. Das wahre Leben und das Vergehen der Zeit, erzählt im Wechsel der vier Jahreszeiten, Liebe und Tod, die Verantwortung füreinander und die kleinen Geheimnisse, die ein jeder doch für sich hat. Alltägliches wie Fahrradfahren und Besonderes wie die Tage der prachtvollen Kirschblüten im Frühling. Es wird viel gegessen in diesem Film, es wird geredet – vor allem aber wird gelebt. Es geht dabei besonders auch um das Erwachsenwerden Suzus, die gern Fußball »im Neymar-Style« spielt, um ihre Unschuld – »I am so happy, that beauty is still beautiful to me.« –, um Traditionen wie der vererbte Kimono und das Dorf-Feuerwerk, um die sehr speziellen japanischen Emotionen. Ein sehr gelungener, so kluger wie berührender Film – keine schlechte Wahl wenn die ganze Familie an Weihnachten gemeinsam ins Kino gehen möchte.
Bestechend ist aber vor allem die formale Stärke von Unsere kleine Schwester, in dem die Kamera fortwährend in Bewegung ist, suchend, tastend, aber kaum merklich, vielmehr in ganz zarten Bewegungen, die man kaum sieht, aber spürt. Das alles steht in der Tradition des großen japanischen Filmerzähler Ozu. Ruhig, unprätentiös und scheinbar beiläufig geht es ohne große Drama doch um existentielle Fragen: Abwesenheit von Eltern, Geschwisterliebe, Erwachsenwerden, seinen eigenem Weg gehen.
Das alte, wunderschöne, aber sehr unpraktische Elternhaus der drei, und die Frage ob man es mit seinen vielen Erinnerungen aufgeben oder drin wohnen bleiben soll, wird zur Metapher für den Umgang mit Erinnerungen.
Eine ganz andere Art von Emotionshaushalt wird uns hier präsentiert: Mal tief ins Herz treffend, dann wieder scheinbar reserviert. Großartig, wie Kore-eda es schafft, Gefühle auf die Leinwand zu bringen!