Schweiz 2022 · 98 min. · FSK: ab 6 Regie: Cyril Schäublin Drehbuch: Cyril Schäublin Kamera: Silvan Hillmann Darsteller: Clara Gostynski, Alexei Evstratov, Monika Stalder, Hélio Thiémard, Li Tavor u.a. |
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Arbeiterin in der Fabrik | ||
(Foto: Grandfilm) |
Die Unruh, das ist ein kompliziertes Schwingsystem, das mechanische Uhren gleichmäßig in Gang hält. Federn und Aufhängungen greifen im Zentrum der Uhr ineinander und werden durch die Unruh ausbalanciert. Die Unruh, so könnte man sagen, hält die Zeit in Gang. In dem gleichnamigen, gleichfalls perfekt ausbalancierten Film des Schweizers Cyril Schäublin ist die Unruh auch Metapher für den Gang einer Welt, in der Anarchismus, Kommunismus und Kapitalismus in einer multiplen Zeitenwende aufeinandertreffen.
Es ist die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, man schreibt das Jahr 1877 und notiert die Hochzeit der Industrialisierung und den Aufbruch der Welt in eine neue Zeitordnung. Im Vallon Saint-Imier bei Bern befindet sich das Zentrum der fabrikmäßigen Uhrenherstellung. In präziser Handarbeit werden die Räderwerke für die schon damals weltberühmten Schweizer Uhren gefertigt, von hier aus werden sie in alle Welt verschifft, in Tausenderstückzahl gehen sie nach New York, Bombay, Hongkong, Schweden, Brasilien, an Zivilisten und ans Militär. Die Welt beginnt gerade erst im gleichen Takt zu schlagen, es ist der frühe Beginn der Globalisierung und der »Zeitzeichen«, wie die Synchronisierung der Uhrwerke genannt wird. Und auch der Effizienz: Die Arbeiterinnen – in der präzisen Fertigung, die eine ruhige Hand verlangt, arbeiten hauptsächlich Frauen – sollen schneller arbeiten und auf dem Werksgelände kürzere Wege nehmen. Erfüllen sie eine bestimmte Soll-Stückzahl nicht, profitieren sie nicht von den besseren Arbeitstarifen. Die Frauen überlegen, absichtlich langsamer zu arbeiten, eine subtile Art der Arbeitsverweigerung und des undeklarierten Streiks.
In dem Jura-Tal, wo die Uhren gefertigt werden, herrschen in dem Jahr der Filmhandlung noch wie überall auf der Welt individuelle Uhrzeiten. Von heute aus betrachtet mutet es wie purer Anarchismus an, wenn jeder die Uhren nach Gusto stellt: Es gibt die Gemeindezeit, die lokale Zeit und die Kirchenzeit. Außerdem die Zeit der Fabrik »Centralines«, die acht Minuten der Gemeindezeit voraus und damit sehr pünktlich ist, wie der Fabrikdirektor (Valentin Merz) befindet. Wenn eine Arbeiterin ein paar Minuten zu spät ihren Zwölfstunden-Arbeitstag antritt, weil sie sich nach der Gemeindezeit gerichtet hat, wird ihr eine Stunde vom Lohn abgezogen. Schnell lernen wir: Die Zeitverschiebung ist weder Karnevaleske noch Anarchismus, sie ist reines Machtinstrument. Wer der Zeithaber ist, kann auch über den Lebenstakt der Subalternen bestimmen.
Dennoch wirkt die zunehmende Präzisierung des Lebens in dieser gnadenlos frühindustriellen Welt als befreiender Trend. Der (historisch verbürgte) russische Kartograph Pyotr Kropotkin (Alexei Evstratov) – ein ausgewiesener Anarchist – kommt in diese Welt beginnender Unruhe, er wird die Jura-Region neu vermessen und die Orte so benennen, wie die Einheimischen sie nennen – und die Namensgebungen der Administration abstreifen. Eine »anarchistische Landkarte« ist dies in der Nomenklatur des Landvermessers – Anarchismus meint wenige Jahre nach der blutigen Niederschlagung der Pariser Kommune (1871) aber nicht Chaos, sondern Demokratie, Frauenpartizipation und Antinationalismus. Ein Territorium ist, wo man sich gemeinsam befindet, nicht wo die Monarchen oder andere Machthaber eine Grenze gezogen haben.
Der Zürcher Filmemacher Cyril Schäublin taucht mit seinem zweiten Film Unruh, für den er den Regiepreis im Berlinale-Wettbewerb »Encounters« erhalten hat, in eine versunkene Epoche ein. Die Geschichte – die mehr ein quasidokumentarisches Fenster zur historischen Zeit öffnet, als eine Spielfilmhandlung zu entwickeln – vollzieht sich kammerspielartig im engen Jura-Tal und vertraut ganz auf die Geräusche der Natur – hier das Blätterrascheln, dort das Grillenzirpen, dann wieder das Vogelgezwitscher. Das Rauschen des Bachs schafft den Gleichklang des Lebens. Das Innere der Fabrikhalle, durch deren große Fenster milchiges Licht fällt, ist angefüllt vom Ticken und Schwingen der Räder, der Federn und der sich in Gang setzenden Uhrwerke. Es ist die hörbare Unruh der Uhren und zugleich die Unruhe eines neuen Zeitalters. Es ist eine Welt, in der der Fabrikdirektor genau weiß, dass die Anarchisten über das Telegrafenamt weltweit besser vernetzt sind als die medienskeptischen Kapitalinhaber, ihre Zeitung aber liest er, um den Ereignissen vorauszugreifen und sein Kapital zu sichern. Währenddessen tauschen in der Pause die Arbeiterinnen Fotografien von Prominenten, als wären es Pirelli-Bilder: von Sarah Bernhardt, dem König von Italien und Fahndungsfotos der französischen Anarchisten, die wie Pop-Stars gehandelt werden.
So geht es in der neu anbrechenden Welt auch um Werbung, Propaganda und Politik. Als roter Faden des Films dient der Foto-Shoot auf dem Fabrikgelände, der sich mit schwerem Aufnahmegerät, Blitzen wie kleinen Detonationen und sekundenlanger atemloser Schockstarre der Fotografierten vollzieht. Es soll eine Broschüre entstehen, mit schönen Aufnahmen der Fabrik, denn es gibt eine erste gravierende Absatzkrise im weltweiten Uhrengeschäft. Die Natur, die sich in dieser kommerzialierten Welt hörbar und sichtbar macht – Bildgestalter Silvan Hillmann arbeitet gekonnt mit dem Vorder-, Mittel- und Hintergrund und setzt immer wieder die Natur ins Zentrum seiner Kompositionen, so einen mächtigen Baum, der lange das Bild erfüllt und die Menschen zu kleinen Nebensächlichkeiten schrumpfen lässt.
Diesem ruhigen Film über die Unruhe lässt sich auch entnehmen, weshalb möglicherweise in diesem Jura-Tal, das einst als Zentrum der Schweizer anarchistischen Arbeiterschaft galt, die große Revolte dann doch nicht stattfand. »Ich bin keine Protagonistin«, sagt die Unruh-Vorarbeiterin Josephine Gräbli (Clara Gostynski). Später wird sie als anarchistisch organisierte Arbeiterin ohne Wimpernzucken oder gar Widerspruch fristlos entlassen. Hier, an diesem Zentrum der Unruhe, sind alle von innerer Seelenruhe erfasst, sind von moralischer Schönheit und reinem Herzen. Ein besseres Plädoyer für den Anarchismus kann es gar nicht geben.
Cyril Schäublin im Werkstattkino München am 10.1.23 und bei der CARTE BLANCHE für Clemens Klopfenstein mit Dene wos guet geit am 13.1.23, ebenfalls im Werkstattkino München!