Kanada/GB/USA 2016 · 94 min. · FSK: ab 12 Regie: Benedict Andrews Drehbuch: David Harrower Kamera: Thimios Bakatakis Darsteller: Rooney Mara, Ben Mendelsohn, Ruby Stokes, Riz Ahmed, Tara Fitzgerald u.a. |
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Menschen mit Gefühlen, die es nicht geben dürfte |
Was passierte mit Rotkäppchen, nachdem der Jäger sie inklusive Großmutter aus dem Bauch des Wolfs geschnitten hat? Führte Dornrößchen mit dem Prinzen, der sie aus dem 100-jährigen Schlaf geküsst hat, eine glückliche Ehe? In Märchen werden böse Wölfe, Hexen, Schwieger- und Stiefmütter für alle Zeiten besiegt, ertränkt, verbrannt oder zumindest verbannt. In der Realität jedoch können Täter wieder auftauchen, nachdem sie ihre Strafe verbüßt haben. Opfer leiden Jahrzehnte unter Traumata, die die schweren Verletzungen bei ihnen verursacht haben.
In Una und Ray steht nicht der Täter bei dem Opfer wieder vor der Tür, sondern das Opfer bei dem Täter. Una zerrt ihre gemeinsame, dunkle Vergangenheit mit aller Macht zurück ans Licht. Aber der Reihe nach...
Una war einmal ein behütetes Kind. Zarte dreizehn, an der fließenden Grenze zwischen Mädchen und Frau. Ray war der Nachbar ihrer Eltern, eher melancholisch und satte vierzig Jahre. Mosaiksteinartige Rückblenden zeigen, wie Una Ray anhimmelt und für ihn schwärmt, wie sie ihm verfällt. Er fängt eine Affäre mit ihr an. Ein paar Wochen lang ist Ray für Una die Liebe ihres Lebens. – Una für Ray ein verbotener Genuss, dem er nicht widerstehen kann. Nachdem sie im Motel miteinander geschlafen haben, gesteht Ray, am liebsten würde er ein neues Leben mit ihr anfangen. Una ist Feuer und Flamme. Doch Ray will, bevor sie Hals über Kopf abhauen, zum nächsten Kiosk, etwas zum Knabbern kaufen. Während Una sehnsüchtig auf Ray wartet, bekommt er Gewissenbisse und kalte Füße. Endlich ist ihm die Aussichtslosigkeit seines Vorhabens bewusst geworden. Zu spät, um noch ungeschoren davon zu kommen...
Für das Gericht ist es ein glasklarer Fall. Das Mädchen wurde missbraucht, der Täter gehört hinter Gitter. Für Una sind ihre Gefühle für Ray ebenso so glasklar. Selbst als sie auf der Zeugenbank gegen ihn aussagen soll, kreist sie hartnäckig um die Frage: »Liebst du mich, so wie ich dich liebe?« Angesichts der Umstände ein gespenstischer Gedanke. Doch Unas Gespenst, Ray, verschwindet nicht ins Reich der Vergangenheit, in der er langsam, aber sicher zu einer schemenhaften Erinnerung verblasst. Obwohl sie keinen Kontakt haben, überschattet Ray ihr Leben. Die fatale Leidenschaft zu dem viel älteren Mann beherrscht Una weiter, sogar als erwachsene Frau. Als sie mit Siebenundzwanzig erfährt, wo Ray lebt, will sie ihn unbedingt treffen. Inzwischen nicht mehr als leicht manipulierbares Mädchen. Una manipuliert selbst, setzt ihre weiblichen Reize ein, um von jedem Mann genau das zu bekommen, was sie will.
Doch was will Una noch von Ray? – Rache? Sexuelle Befriedigung? Ihre Liebe ausleben, die vor fünfzehn Jahren verboten war? Braucht Unas Seele für ihre Heilung Gewissheit, ob Ray sie nur missbraucht hat oder auch geliebt? Wird Una den Spieß umdrehen und das Leben des Mannes zerstören, der ihr Leben zerstört hat? Ray hat inzwischen eine neue Identität, einen Job, eine harmonische Beziehung. Seine Läuterung ist glaubwürdig. Er wird ungern an seine Vergangenheit erinnert. Nach der Verbüßung seiner Strafe ist das nicht nur sein gutes Recht, sondern auch eine Notwendigkeit, um ein normales Leben führen zu können. Denn Pädophilie gehört zu den am heißesten diskutierten und mit Abscheu belegten Straftaten.
Aktuell ist die Hitze in der öffentlichen Diskussion so hoch gekocht, dass ein sachlicher Ton selten gewährleistet ist. Zu einem kühleren und damit hilfreichen Umgang mit dem Thema gehört, dass die körperliche Anziehung zwischen Erwachsenen und Jugendlichen bzw. Kindern im Verlauf der Menschheitsgeschichte mehrmals unterschiedlich bewertet wurde. Die Spannbreite reicht von der Befürwortung, über die Duldung bis hin zum Verbot.
Der aktuelle Diskus führt sogar dazu, dass »normale« Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern unter einem hysterischen Generalverdacht stehen können. Angehende Kindergärtner z.B. stehen unter dem Rechtfertigungsdruck, ob ihr Berufswunsch nicht sexuellen Motiven entspringt.
Nabokov hat schon mit seinem Roman »Lolita« (1955) gezeigt, dass eine Liebesbeziehung zwischen einem jungen Mädchen und einem erwachsenen Mann mit herkömmlichen Opfer-Täter-Klischees wenig zu tun haben muss. Und spätestens nach den Verfilmungen von Stanley Kubrick (1961) und Adrian Lyne (1997) war eine tolerantere Blickweise auf dieses Phänomen auch im Mainstream angekommen. Und wegen der starken, widersprüchlichen Emotionen, die das Thema auslöst, wird der Lolita-Komplex immer wieder neu erzählt und variiert.
Eine gelungene Variation wie Una und Ray, zeichnet kein stereotypes Schwarzweiß-Bild. Sie liefert keine Argumente, weder pro noch contra. Regisseur Benedict Andrews lädt den »Lolita«-Komplex weder erotisch auf, noch verteufelt er ihn. Die Hauptdarsteller, Rooney Mara als Una und Ben Mendelsohn als Ray zeigen differenzierte Porträts von Gefühlen, die es nach moralischen Gesichtspunkten gar nicht geben dürfte. Fließende Übergänge zwischen Macht und Ohnmacht. Gier und Genuss. Recht und Unrecht. Vertrauen und Misstrauen.
Ursprünglich war die Geschichte dieses Dilemmas kein Drehbuch, sondern ein Theaterstück mit dem Titel »Blackbird«. Geschrieben hat es David Harrower. Der Dramatiker hat es auch adaptiert und so die Vorlage für einen ungewöhnlichen Film geschaffen.