Deutschland 2018 · 95 min. · FSK: ab 0 Regie: Frauke Lodders Drehbuch: Frauke Lodders Kamera: Fabian Schmalenbach, Timo Schwarz Schnitt: Kirsten Ottersdorf |
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Im Film im Vordergrund: die Geschwister der erkrankten Kinder |
Papa hilft von links, Selin von rechts. Beide stützen den kleinen Eymen, der offenbar seine ersten Rollerblades-Versuche macht. Wenn man die Drei so von hinten sieht, käme man nicht auf die Idee, dass Eymens Schwester auch Unterstützung braucht. Anderer Art und viel mehr als er.
Geschwisterbeziehungen prägen die Art und Weise, wie wir zwischenmenschliche Verhältnisse gestalten, in erheblichem Maße – kein Wunder, dass sie angesichts ihrer Komplexität in Literatur, Film oder Drama oft der Schlüssel sind, der eine Handlung vorantreibt. Im echten Leben hinterlassen sie erst recht Spuren, wenn vor allem das elterliche Aufmerksamkeitskonto ein Ungleichgewicht aufweist. Einer der Gründe kann sein, dass eines der Kinder schwerkrank oder behindert oder beides ist.
Frauke Lodders beleuchtet in ihrem Dokumentarfilm Unzertrennlich das Leben mit »behinderten und lebensverkürzt erkrankten« Geschwistern. Sie stellt all jene in den Mittelpunkt, die in Reportagen über kranke und behinderte Kinder, freilich mehr aus erzählstrukturellen Gründen und wohl kaum aus Desinteresse, meist eher am Rande erscheinen.
Bedauernswerte Kinder, bedauernswerte Familien, in denen das eine Familienmitglied »an« und »unter« der Krankheit »leidet«, wie es in unserem Sprachgebrauch, oft unbewusst, emotionsbevormundend heißt – solche oder so ähnliche Gedanken mögen einem zunächst bei diesem Thema in den Sinn kommen. Und in der Tat gibt es nichts zu beschönigen: Wer in solch einer Familie als gesundes Geschwister aufwächst, muss oft zurückstecken. Auch die im Film porträtierten Familien und Kinder lassen dies erkennen. Wie die eigene Identität finden, sich selbst ins Zentrum stellen, wo man sich doch lange Zeit zwangsläufig dort nicht sah? Wie Gerechtigkeit schaffen, wo diese nur schwer definiert werden, geschweige denn Maßstab sein kann? Und wie umgehen mit Verlustschmerz oder den Gedanken daran, dass das Geschwisterchen eines Tages nicht mehr da sein wird?
Gerade die Offenheit, mit der alle Beteiligten ihre Sicht der Dinge wiedergeben können, ist eine der vielen Stärken von Unzertrennlich: Offenbar ist es während des Drehs immer gelungen, Gesprächssituationen zu schaffen, in denen nichts von dem Erzählten nach Vorwurf und nichts nach Rechtfertigung klingt. Diese unverkrampfte Abwesenheit von Bewertung stellt nebeneinander, was sich schlussendlich ergänzt. So wird unter anderem Platz geschaffen für erfrischenden Pragmatismus, unerwarteten Humor und unpathetische Warmherzigkeit.
Getragen wird der Film durchgehend von starken, gefühlvollen Bildern, die auch ganz für sich allein facettenreich erzählen: Davon, sich Raum zu schaffen, gemeinsam oder alleine, sei es im Kinderhospiz, beim Verlassen des alten Zuhauses, beim Aufbruch in einen neuen Lebensabschnitt, wunderbar erfasst von der Kamera von Timo Schwarz und Fabian Schmalenbach.
Die bemerkenswert gut strukturierten Einblicke in vier Familien – alle mit unterschiedlichsten und doch vergleichbar schweren Herausforderungen konfrontiert – ergeben ein komplexes Themenmosaik von gesellschaftlich hoher Relevanz. Man sollte sich auf keinen Fall von dem etwas umständlichen, indes korrekten Slogan von Unzertrennlich – »Leben mit behinderten und lebensverkürzt erkrankten Geschwistern« abschrecken lassen, denn es ist ein Film, der hierzulande längst überfällig ist angesichts der vier Millionen Menschen in Deutschland, die jeweils ein schwerkrankes und/oder behindertes Geschwister haben.
Wer Unzertrennlich im Kino verpassen sollte, wird wahrscheinlich eine Art »Spin-off« in der ARD sehen können: Da für den Dokumentarfilm eigentlich noch eine weitere Familie porträtiert wurde, diese aber darin aus Platzgründen nicht erscheint, ist deren Geschichte Thema einer Reportage, die voraussichtlich gegen Ende des Jahres ausgestrahlt wird.