USA 2003 · 128 min. · FSK: ab 12 Regie: Gary Fleder Drehbuch: Brian Koppelman, David Levien, Rick Cleveland Kamera: Robert Elswit Darsteller: John Cusack, Gene Hackman, Dustin Hoffman, Rachel Weisz u.a. |
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Die Jury |
Anonymes Familienglück festgehalten auf Home-Video-Bildern. Dann geht der Vater, den man eben noch bei der Familienfeier erlebte, zur Arbeit ins Büro. Kurz darauf wird er erschossen, Opfer eines Amoklaufs. Für einen kurzen Moment konnte man glauben, er sei der Held dieses Films.
Auf diesen Vorspann folgt – »2 years later« – die Exposition: so schnell, dynamisch und professionell die Charaktere der Hauptfiguren sind, werden sie auch vorgestellt, es dominieren Ton und Atmosphäre einer etwas altmodischen Maschine, die schwerfällig, aber unaufhaltsam in Fahrt kommt. Und schon ist man mitten drin im Genre des Gerichtsfilms und zwar einer seiner speziellen neueren Ausprägungen: Des »Grisham-Films«.
Ende der 90er waren die Verfilmungen der Romane des Bestseller-Autors derart en vogue, dass es pro Jahr mindestens einen »Grisham-Film« im Kino gab; zuletzt aber schien er fast etwas aus der Mode gekommen. Grishams Vorlagen sind nicht nur durchweg nach dem selben Erzählschema – »kleiner« Einzelkämpfer und Underdog gegen großen, bösen Apparat – gestrickt, sie sind auch von einer Grundhaltung geprägt, die man als »pathetische Desillusionierung« bezeichnen könnte. Grisham ist ein pessimistischer Moralist: Gerade weil er nicht vom grundsätzlichen Sieg des Guten, sondern von seinem regelmäßigen Scheitern überzeugt ist, dämpfen seine Filme jede idealistische Erwartung der Zuschauer und fordern sie doch heraus: Das Gute, wenn es überhaupt eine Chance hat, muss immer neu erkämpft werden, und der gute Einzelne kann bei ihm immer auf einen Erfolg hoffen – wenn es auch nie ein endgültiger und grundsätzlicher wird.
Zunächst einmal folgt aber die Arbeit der Desillusionierung: In Runaway Jury, dessen Romanhandlung stark verändert wurde, dessen Grundkonstellation aber erhalten blieb, liegt sie darin, dass ausführlich die Arbeit der Jury-Consultants zum Thema wird, jener psychologisch geschulten Juristen, die ganz auf die Auswahl der Jurys und später auf deren Beeinflussung spezialisiert sind, und dabei weder den Einsatz von Detektiven, noch den von komplizierter Technik scheuen. Auch beim europäischen Publikum kann man dabei auf genug Erfahrung mit Court Room Dramas setzen, so dass es unnötig ist, erst umständlich Rolle und Funktion der Jury sowie deren Auswahl zu erklären. Der Film zeigt gleich zum Auftakt in virtuosen Bildern den ganzen hochgerüsteten Apparat, mit dem versucht wird, das Unkontrollierbare zu kontrollieren, die Wertmaßstäbe der Jury im vorhinein zu durchschauen und im Idealfall deren Zusammensetzung so zu designen, dass das Urteil im eigenen Sinn bereits vor Prozessbeginn feststeht.
Auf diesem Weg werden auch die beiden Antagonisten eingeführt: Dustin Hoffman ist Wendell Rohr, der »anständige« Anwalt der Witwe des Amoklaufs-Opfers vom Auftakt, Gene Hackman ist Rankin Fitch, der »böse« Jury Consultant der verklagten Waffenindustrie. Vor allem Hackman, dem das Drehbuch viele sarkastische »Oneliner« gönnt, ist ganz und gar großartig als lebensweiser, kalter Zyniker und Kontroll-Freak, der seine extrem gute Menschenkenntnis in den Dienst der falschen Sache stellt. In dieser Figur, und dort wo man Fitch bei der Bewertung des Falles und seinen Kommentaren bei der Jury-Auswahl erlebt, ist der Film ganz stark – und treibt zugleich seine Desillusionierung auf die Spitze, indem er dem amerikanischen Jurysystem alles selbstbeweihräuchernde Pathos einer Volksversammlung im Kleinen, eines souveränen Horts der Gerechtigkeit nimmt, und zeigt, worum es eigentlich geht: Um ein allenfalls spieltheoretisch und sozialpsychologisch erfassbares Handwerk gegenseitiger Manipulation. So ganz nebenbei – und darin ist Regisseur Gary Fleder wieder sehr nahe bei Grisham und legt den antirationalen Kern von dessen Geschichten frei – unternimmt Runaway Jury dabei auch die Dekonstruktion aller Vorstellungen eines herrschaftsfreien Diskurses in offener Rationalität: Um Aufklärung, das suggeriert der Film, geht es im Leben so wenig wie um Vernunft, Gerechtigkeit, oder andere hohe Werte der Rechtsprechung; Argumente sind Mittel im Machtkampf, und im Prinzip ist jeder käuflich – das ist alles.
Zum wahren Held des Films und Repräsentanten des speziellen, im Prinzip antilegalistischen grishamschen Gerechtigkeitspathos wird der von John Cusack gespielte Nicholas Easter. Als »U-Boot« versucht er mit Hilfe seiner Freundin Marlee (Rachel Weisz) nicht weniger taktierend und kaum weniger zynisch, aber letztlich, wie man schnell ahnt, nicht für Geld, sondern für bessere Zwecke, die Jury von innen zu beeinflussen.
Gary Fleder war genau der richtige Regisseur, um dieser im Prinzip etwas glatten, aus »Old Europe«-Sicht »typisch amerikanischen« Story eine gewisse Doppelbödigkeit einzuhauchen. Geschickt nutzt Fleder vor allem in der ersten Hälfte Atmosphären und Klischees des Schauplatzes New Orleans, um einen Hauch von Dämonie und Zauberei in die Bilder fließen zu lassen, und seinen Figuren immer wieder Momente der Verlorenheit zu geben, sie in kleine, dunkle, unübersichtlich verhängte Ecken zu drängen. Auch der Zuschauer kann hier wie die Charaktere gleich mehreren Fakes aufsitzen, und immer wieder wandelt sich der Gerichtsfilm kurz zum Paranoiathriller. Auch gönnt Fleder seinen vielen großartigen Darstellern eine Vielzahl guter Szenen: Zu den Höhepunkten gehört ein konspiratives Treffen zwischen Hackman und Weisz sowie die Gerichtsaufritte der Anwälte.
Indem er mit den Mitteln des Populärkinos eine scharfe Anklage an gegen die scheinheilige US-Waffenindustrie sowie die dortigen Waffengesetze mit ihrem Kult der »freien Knarre für freie Bürger« formuliert, hat der Film auch eine eher liberale politische Botschaft. Lange Zeit hält Runaway Jury dabei auf gutem Niveau immer neue Wendungen und Überraschungen bereit – vorausgesetzt man akzeptiert das typische Grundschema, und ärgert sich nicht schon im Prinzip über Grishams Ansatz – was dem Film freilich dann kaum vorzuwerfen wäre.