GB/USA 2004 · 141 min. Regie: Mira Nair Drehbuch: Matthew Faulk, Mark Skeet, Julian Fellowes Kamera: Declan Quinn Darsteller: Reese Witherspoon, Eileen Atkins, Jim Broadbent, Gabriel Byrne u.a. |
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Indische Träume: Reese Witherspoon als Becky Sharp |
Barry Lyndon – auch nach 30 Jahren bleibt Stanley Kubricks Film das unübertroffene Vorbild für alle period pictures, die bei uns etwas naiv »Kostümfilme« genannt werden – als hätten die Darsteller in Gegenwartsstücken keine Kostüme an.
Natürlich ist Kubricks Meisterwerk ein sehr hoher Maßstab, und man muss Mira Nair (sie gewann den Goldenen Löwen für Monsoon Wedding), der aus Indien stammenden, in New York lebenden Regisseurin keinen Vorwurf machen, dass sie dessen Größe nicht erreicht. Vergleichen muss man beide trotzdem, schon weil Nair mit Vanity Fair nun endlich auch den zweiten großen, hierzulande noch bekannteren Bildungsroman des Briten William Makepeace Thackeray verfilmt hat (abgesehen von einem vergessenen Versuch aus den 30er Jahren). Und es gibt zumindest einen Augenblick in dem knapp zweieinhalbstündigen Film, da erreicht Vanity Fair genau das, was Kubrick über die ganze Länge gelingt, und was seitdem letzter Anspruch für eine Historienverfilmung sein muss: Die Vergangenheit in ihrer merkwürdigen Fremdheit und Unvertrautheit zu erfassen, und sie zugleich – ja, gerade dadurch – zu einem fernen Spiegel der Gegenwart werden zu lassen.
Im Frühsommer 1815 reisten die Angehörigen der britischen Oberschicht ausgelassenster Stimmung nach Belgien, um – bei Champagner und bester Verpflegung, Musikbegleitung, Tanz und womöglich Spontansex – zuzugucken, wie das Empire endgültig mit Napoleon Bonaparte ein Ende macht. Schlachtenbummler im Wortsinne, erregte Cheerleader des Krieges, wie es heute nur noch unsere Medien (und wir womöglich weit weniger enthusiastisch am Fernseher) sind. Man sieht diese blasierte, aufgetakelte Schickeria gerade tanzen – im Original findet der Ironiker Thackeray für all dies das großartige Wortspiel von der »Bonaparty« – da bricht die Wirklichkeit mit Macht in den schönen Schein ein: Die französische Armee hat die britische Flanke umgangen und steht vor Brüssel. Panik bricht aus. In wilder Flucht hetzt eine verständnislose, betrunkene, falsch gekleidete und auch sonst völlig desorientierte Menge von dekadenten Müßiggängern aus der Stadt – wunderbare, glänzend inszenierte Filmpassagen, denen wir staunend zuschauen – es sind die vergessenen Stunden von Waterloo, bevor Blücher kam, in denen Napoleon wie der sichere Sieger aussah –, und zugleich erkennen, wie zeitgemäß diese Gesellschaft doch ist: In ihrer Ahnungslosigkeit, ihrer Unfähigkeit, sich vorzustellen, dass alles auch ganz anders sein könnte.
Ähnliche Brisanz kann der Rest des Films dagegen leider kaum entfalten. Daran, dass es unmöglich wäre, ein 1000-Seiten-Buch zu verfilmen, kann es nicht liegen, da haben neben Kubrick auch schon andere das Gegenteil bewiesen. Ab und an gelingen durchaus üppige Bilder und das Leben des unter Geldknappheit leidenden niederen Adels im Georgianischen England erfasst Vanity Fair wohl recht gut, wenn auch mitunter etwas dekorativ. Auch die Schauspieler gefallen, noch mehr als Reese Witherspoon in der Rolle der Becky Sharp, vor allem Gabriel Byrne als Lord Steyne und Bob Hoskins als verarmter Sir Crawley.
Eher wirkt das Drehbuch zu unentschieden, zu wenig focussiert, um nicht insgesamt gepflegt zu langweilen. Gar zu beflissen arbeitet sich der Film daran ab, möglichst viele Szenen und Figuren zu bebildern. So wirkt alles mitunter zwar exzentrisch und skurril, aber insgesamt zu unscharf. An kaum einer Stelle ist der Film die Satire, die das Buch unbedingt war, und Thackerays expliziten, überaus modernen Anspruch, einen »Roman ohne Held« (so der Untertitel) geschaffen zu haben, ignoriert Nair souverän. Stattdessen versucht sie aus Becky Sharp, einer von zwei Hauptfiguren des Buches – neben Amelia Sedley (Romola Garai), die hier ganz an den Rand gedrängt wird –, eine moderne Frau zu machen.
Nun ist diese Becky eine der komplexesten Charaktere der britischen Literatur: ein intelligentes Mädchen aus niederen Verhältnissen, das ehrgeizig den soziale Aufstieg um jeden Preis sucht. Das hieß schon 1815, dass sie sich in niederen Jobs – Dienerin, Erzieherin – bei der schon niedrigen Gentry durchschlagen musste, um irgendwann mit Glück und Gunst eine »gute Partie« zu machen. Anfangs sind alle von ihrem Witz, ihrer Frische und Unkonventionalität noch recht amüsiert, doch als sie sich ein paar mal daneben benimmt, rasten die unerbittlichen Ausschlussmechanismen der Standesgesellschaft ein, und Becky, die die passende Heirat verpasst, steigt die soziale Treppe von der Gesellschafterin zum Salonluder und, mit den Jahren, zur Hure herab. Das wäre vielleicht fesselnd, könnte Nair deutlich machen, was es mit unserer Gegenwart zu tun hat. Die gute Absicht ist klar: Die Gesellschaft, die Thackerays Werk kritisiert und karikiert, existiert im Grunde immer noch. Es geht um Sex, Geld und Macht, wie immer, und auch unsere Zeit hat ihre starren Schranken und ihre Dekadenz. Doch warum dann nicht, fragt man sich, gleich das Ganze ins England von – sagen wir – Margaret Thatcher versetzen? Der Mut dazu fehlt, und so ist nur theoretisch klar, was an ihr und ihrer »Karriere« zeitunabhängig universell gültig sein soll.
Eine wirkliche Aktualisierung des Stoffes glückt Nair hingegen in anderer Hinsicht, am einzigen Punkt, an dem sie den Mut findet, Thackeray ganz frei zu interpretieren und die Story – durchaus im Einklang mit dem Geist der Vorlage – leicht abzuändern. Thackeray selbst wurde bekanntlich – wie Nair – im indischen Kalkutta geboren, wo er auch aufwuchs. Die Bezüge auf Indien ziehen sich durch sein ganzes Werk, und auch in Vanity Fair gibt es Kolonialoffiziere, die in Indien Dienst tun und Menschen, die eine »Geschichte des Punjab« schreiben. Nair betont die Bedeutung Indiens für das England dieser Epoche, zeigt historisch treffend die Alltäglichkeit der indischen Elemente im britischen Leben jener Zeit – und wie diese barocke Lebendigkeit und Wärme in die kalte Starre der Klassengesellschaft bringen. Wenn am Ende Becky – nicht romangetreu – schließlich mit der guten Seele Jos Sedley (Tony Maudsley) ihr Glück findet, auf einem Elefanten durch Indien reitet und Bollywood-Musik erklingt, dann erscheint Asien ganz zeitgemäß als Utopie für ein alterschwaches Europa, als neue Welt voller Aufbruchsgeist, Versuchung und Glücksversprechen.
Noch knapp 100 Jahre später seufzte der britisch-indische Rudyard Kipling »Ship me somewhere east of suez / Where the best is like the worst/ Where there are no ten commandment/ And a man can raise a thirst.« Wenn das kein aktueller Aufschrei ist...