Deutschland 2002 · 102 min. · FSK: ab 0 Regie: Thomas Heise Drehbuch: Thomas Heise Kamera: Peter Badel Schnitt: Gudrun Steinbrück |
||
»Lieber zehn Russen als einen Wessi« |
Irgendwo in der sachsenanhaltischen Provinz: Die kleine Ortschaft liegt im Windschatten einer verlassenen Armeebasis. Seit die Russen abgezogen sind, ist die Zeit stehen geblieben. Die Wiedervereinigung ist hier nie angekommen. Man raucht F6, trinkt Clubcola und Wodka. »Lieber zehn Russen als einen Wessi«, sagt Otti, dessen Kneipe gesellschaftlicher Umschlagplatz des Dorfes ist. Der Lebensradius der Dorfbewohner beträgt nur ein paar Kilometer. »Ich fahr höchstens mal zum Fröscheteich,« sagt Moni, eine Hausfrau mit raspelkurzen Haaren und Nasenpiercing.
In einem Ort wie diesem wird selbst die Einweihung des Gemeindehauses zum Event. Dass die Russen weg sind, bedauert man, damals war wenigstens noch etwas los im Dorf. Moni fand vor allem die Offiziersfrauen cool. »Die haben gesoffen wie die Kerle«. Heute bleiben zur Unterhaltung nur der Schnaps und das Trompetenduo Rita und Klaus. Hingebungsvoll spielen sie »Heitschibumbeitschi«. Klaus trägt ein Nicolauskostüm, Rita gibt mit güldener Lockenperücke ein überaltertes Christkind. Ansonsten schlägt man sich so durch, und wartet auf eine ungewisse Zukunft. »Ich muss noch zwei Jahre irgendwie aushalten«, sagt Volker, ein alleinerziehender Vater, dessen Frau schon das Weite gesucht hat. Sobald sein Jüngster aus der Schule ist, will er auch raus aus dem Dorf, ins Leben zurück. Moni flüchtet sich derweil in trotzige Akzeptanz. »Ich bin froh, dass ich hier bin«, sagt sie, »glücklich brauch' ich nicht sein.«
Eine endlose Kamerafahrt über die Betonmauern eines Hangars zeigt abblätternde Farbe in wechselnden Graunuancen. An einem Ort, der so wenig Zukunftsperspektiven bietet, wird die Zeit transparent für die Vergangenheit. Und so wird der Film zur archäologischen Spurensuche. Da sind Briefe von Heises Vater Wolf, aus einer Zeit, als die Armeebasis als Arbeitslager fungierte. Da sind die Kriegsgeschichten der Dorfbewohner. Erinnerungen an die Russen.
Für Heise ist dies bereits der dritte Anlauf für einen Film, den er bereits zu DEFA-Zeiten drehen wollte. Sein hartnäckiges Festhalten an dem Projekt wurde belohnt: Vaterland erhielt die silberne Taube des Leipziger Filmfests.
Vier Wochen lang haben Heise und sein Team sich bei Dorfbewohnern einquartiert. Einen Dorfgasthof gibt es nicht. Doch so richtig warm scheint die Mannschaft mit den Gastgebern nicht geworden zu sein. Der alte Otti ließ sich nur ungern filmen. »Das sind ganz neue Kameraprobleme, die sind nicht technischer Art, sondern moralischer«, sagt Kameramann Peter Badel. Wer das Objektiv auf Menschen hält, wandelt auf einem schmalen Grat zwischen größtmöglicher Nähe und Respekt vor der Intimsphäre. Der Balanceakt gelingt Heise nicht immer, das macht die Entscheidung der Jury, die ihm in Leipzig die Silberne Taube verlieh, problematisch. Erbarmungslos rückt die Kamera die Jogginghose ins Bild, schweift über das grausliche Interieur. Und so fühlt sich der Zuschauer von Zeit zu Zeit wie in einem Kuriositätenkabinett. Um dem zu entgehen, gibt es nur einen sicheren Weg. »Man muss die Menschen gern haben«, sagt Gerd Kroske, ein alter Kollege aus DEFA-Tagen, »das ist das ganze Geheimnis«.