Türkei/F/D 2012 · 100 min. · FSK: ab 12 Regie: Pelin Esmer Drehbuch: Pelin Esmer Kamera: Özgür Eken Darsteller: Olgun Simsek, Nilay Erdönmez, Menderes Samancilar, Kadir Çermik, Laçin Ceylan u.a. |
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Inszenatorisches Understatement mit heimlicher Raffinesse |
Immer häufiger sind bei uns Filme aus Ländern zu sehen, die bisher nicht zu den klassischen Filmnationen zählen. Stellvertretend für manche andere sind in diesem Zusammenhang das slowakische Drama Môj pes Killer – My Dog Killer und der chilenische Film Carne de perro – Hundefleisch zu erwähnen. Die Türkei hingegen ist als Filmland bereits seit längerem bekannt. Trotzdem hört man nicht allzu oft von Filmen aus dem auf zwei verschiedenen Kontinenten liegenden Land. Aber jetzt weht auch aus dieser Richtung frischer filmischer Wind nach Zentraleuropa. Die Istanbuler Filmemacherin Pelin Esmer legt mit ihrem zweiten Spielfilm Watchtower ein sehr eigenständiges und gelungenes Drama vor. Es zeigt eine Türkei zwischen archaischen Strukturen und Anzeichen eines gesellschaftlichen Umbruchs und Neubeginns.
Nihat (Olgun Simsek) beginnt in dem kleinen, im Norden der Türkei gelegenen, Städtchen Tosya eine Arbeit als Waldbrand-Wächter. Hier bewohnt er alleine einen einsam in den bewaldeten Bergen gelegenen Wachturm, von wo aus er die Umgebung auf mögliche Waldbrände hin überwacht. Seine neue Arbeitsstelle hat Nihat mit einem Reisebus erreicht, in dem die Literaturstudentin Seher (Nilay Erdönmez) als Reisbegleiterin arbeitet. Als Nihat eines Tages, um sich Essen zu holen, in den Ort hinabsteigt, lernt er dort Seher am Busbahnhof kennen. Es stellt sich heraus, dass die beiden einsamen Seelen beide an diesen Ort geflohen sind, da sie eine schwere emotionale Last mit sich herumtragen. Aber auch hier können sie letztendlich nicht vor ihrer Lebensrealität davonlaufen. Es kommt der Augenblick der Entscheidung, bei dem es um Leben und Tod und um ihre Zukunft geht.
Pelin Esmers Drama Watchtower ist eine gelungene Übung in inszenatorischem Understatement, dessen heimliche Raffinesse sich erst nach und nach erschließt. Die Drehbuchautorin und Regisseurin verzichtet zugunsten einer äußerst naturalistischen Darstellung auf jede vordergründige visuelle Stilisierung. Den Film zeichnet eine große optische Schlichtheit und Bodenständigkeit aus, die mit dem gezeigten ländlichen Umfeld korrespondiert. Nihat wirkt zunächst so, als ob er selbst ein eher schlichtes Gemüt wäre, dem sein einfacher und einsamer Job gerade recht kommt. Der Schnauzbartträger verständigt sich nur per Funk mit seinen Kollegen, die selbst auf einsamen Wachtürmen ihren Dienst tun. Seine zu festen Zeiten geforderte Lagebeschreibung lautet stets „alles normal!“. Dass die vorgesehene Ablösung nicht kommt, verstärkt Nihats Einsamkeit zusätzlich. Doch ihn scheint dies wenig zu stören. Stoisch verrichtet er seinen Dienst.
Seher hingegen wirkt in diesem archaischem Umfeld von vornherein recht fehl am Platz. Schnell stellt sich die Frage, was genau die junge schöne Studentin in dieses Nest verschlagen hat. Hier herrschen noch Gesellschaftsstrukturen bei denen der Mann über die Frau, die Alten über die Jungen und die Vorgesetzten über ihre Mitarbeiter herrschen. So wagt der Busfahrer, nachdem er bereits über einem Monat durchgearbeitete hat, kaum seinen Chef zu fragen, ob er einmal frei haben könne, um seine Familie zu besuchen. Der Chef weist sein Anliegen kaltschnäuzig mit dem Hinweis zurück, dass er erstens keine Ersatzfahrer habe und zweitens zu seiner Zeit auch mal ein halbes Jahr durchgearbeitet habe. Wieso begibt sich Seher also freiwillig in solch eine Form von Lohnsklaverei?
Später wird deutlich, dass Seher zwar aus der Stadt kommt, ihr Vater jedoch selbst ein verhärmter alter Knochen ist und kein Herz zu besitzen scheint. Tosya ist für sie deshalb trotz allem das geringere Übel. Zudem steckt sie in einer äußerst prekären Lage, die ihr das Leben zunehmend zur Hölle macht. Immer mehr entgleitet der stets sehr beherrscht auftretenden Frau die Kontrolle. Nihat wiederum entpuppt sich mit der Zeit als ein sehr patenter Mann und als ein unerwartet schlauer Fuchs. Mit den geringen Mitteln die er hat, optimiert er kreativ seine Arbeitsabläufe. Wenn er mit seinen Kollegen oder Vorgesetzten per Funk kommuniziert, bedenkt er jedes Wort, dass er von sich gibt. Selbst als die Situation auch für ihn immer unmöglicher wird, behält er einen klaren Kopf und tut einfach Schritt für Schritt, was getan werden muss. Es offenbart sich, dass sich hinter seinem ein wenig grobschlächtigen Äußeren ein feinfühliger und mitfühlender Mensch verbirgt.
Schließlich eskaliert die Situation von Nihat und Seher. Als in einer stürmischen Nacht tatsächlich einmal donnernd der Blitz in einen Baum einschlägt, ist dies Nihat ziemlich egal. Im aktuellen emotionalen Ausnahmezustand ist längst nichts mehr „normal“. Doch inmitten der tobenden Naturgewalten und des inneren Gefühlschaos blitzt plötzlich ein Hoffnungsschimmer auf. Der Wachturm wird für beide zum Schicksalsort.