Deutschland 2022 · 109 min. · FSK: ab 12 Regie: Aron Lehmann Drehbuch: Aron Lehmann Kamera: Christian Rein Darsteller: Corinna Harfouch, Luna Wedler, Benjamin Radjaipour, Karl Markovics, Rosalie Thomass u.a. |
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Im Angesicht des Okapi... | ||
(Foto: STUDIOCANAL) |
»Selma hatte in ihrem Leben dreimal von einem Okapi geträumt, und jedes Mal war danach jemand gestorben, deshalb waren wir überzeugt, dass der Traum von einem Okapi und der Tod unbedingt miteinander verbunden waren.« – Mariana Leky, Was man von hier aus sehen kann
Wer Aron Lehmanns bisherige Filmografie verfolgt hat und Mariana Lekys Bestseller aus dem Jahr 2017 gelesen hat, durfte sich keine Sorgen machen, dass in Lehmanns Adaption von Lekys Roman etwas schiefgehen könnte. Denn die schrulligen, sich der weiten Welt mit ihrem Westerwalder Dorfalltag entgegenstemmenden Gestalten aus Lekys Roman finden sich zumindest in Ansätzen auch in Lehmanns bisherigen Filmen, in seiner German Mumblecore-Reflexion Kohlhaas oder die Verhältnismäßigkeit der Mittel (2012), seiner Finanzwelt- und Culture Clash-Komödie Highway to Hellas (2015), der bissigen Tragikomödie Die letzte Sau (2016), der romantischen Musikkomödie Das schönste Mädchen der Welt (2018) und natürlich auch in seinem wilden Remake Jagdsaison, das erst vor ein paar Monaten in die Kinos gekommen ist.
Dabei gab es durchaus ein paar Hindernisse zu bewältigen. Denn Lekys Roman, der in drei Teilen das Leben Luises erzählt, die bei ihrer Großmutter und deren bestem Freund, einem Optiker in einem kleinen Dorf im Westerwald aufwächst, hat durchaus die Tendenz, immer wieder in Kitschtäler abzudriften und einen blumigen Tonfall anzuschlagen, der einem dann doch etwas zu beschwichtigend aufstoßen kann, weil er Blümchenkaffee serviert, wo doch eigentlich ein Hochprozentiger her muss, so wie das der ebenfalls 2017 publizierte und ebenfalls von Tod und Verdrängung handelnde Roman Und es schmilzt von Lize Spit eindrücklich gezeigt hat.
Aber zum Glück bügelt Lehmann diese Schwachstellen in seiner Verfilmung weitestgehend aus, indem er mit seiner forcierten, asynchronen Erzählweise wohltuend den Erzählfluss bricht, im Kern jedoch Lekys Erzählduktus beibehält, ihn aber gleichzeitig dimmt und aufdreht, wie er es für angemessen hält und nicht wie es bei Leky verbucht ist.
Das bedeutet, dass der magische Realismus von Leky zwar weiterhin präsent, aber nicht omnipräsent ist, dass Luises Oma Selma (Corinna Harfouch) auch hier dann und wann von Okapis träumt und innerhalb von 24 Stunden ein Mensch im Dorf stirbt und dass auch Luise (Luna Wedler) ihre Gabe hat und sich Gegenstände bewegen, wenn sie die Unwahrheit sagt.
Aber Lehmann zimmert mit seinen hervorragenden Schauspielern eine Dorfgemeinschaft zusammen, deren Alltag in seiner Alltäglichkeit derart präzise und liebevoll (ohne kitschig zu sein) skizziert wird, dass es weniger Magie als Realismus und vor allem die legendäre German Angst ist, die hier zentral positioniert wird. Eine Angst, die literarisch vielleicht am subtilsten in Peter Handkes kurzer Erzählung über seine Mutter, Wunschloses Unglück, ausgearbeitet wurde, die aber auch bei Leky und mehr noch bei Lehmann präsent ist. Eine Angst, die aufrecht jede Änderung und therapeutische Prozesse verhindert und die ihre Zuspitzung in Lehmanns Film in der traurigen Marlies (Rosalie Thomass) erfährt, die lieber in ihrem Haus, ihrem Dorf, untergeht als nach dem Glück zu suchen.
Und so geht es allen Beteiligten: Statt gegen das Unglück zu kämpfen, wird die Dorfgemeinschaft und die kleine Heimat beschworen, statt wie bei Edgar Reitz‘ und Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht zu gehen, wird – trotz bebender Sehnsucht – geblieben. Von einer Ausnahme natürlich abgesehen.
Dieser mit tiefer Angst und Traurigkeit grundierte Schlund wird von Lehmann mit einer poetischen, immer wieder überraschenden Bildsprache garniert, etwa dem immer wiederkehrenden Uerdinger Schienenbus, der schon in Wim Wenders‘ Im Lauf der Zeit eine so symbolische wie konkrete Symbolik des vermeintlichen Abschieds darstellte, oder den ebenso wiederkehrenden „Familienaufstellungen“, die zwar eine zutiefst dysfunktionale Familiendynamik offenbaren, aber durch Bildsprache und Inszenierung in einer Feelgood-Zwischenwelt Zuflucht finden, die Jean-Pierre Jeunet in Die fabelhafte Welt der Amélie sehr ähnlich ausgemalt hat und die man natürlich auch ganz trocken als „Verdrängung“ bezeichnen könnte.
Doch Lehmanns Dorf ist natürlich nicht Jeunets Paris, und spätestens im letzten Teil, als es weniger um Luise geht, sondern den Optiker (Karl Markovics), der versucht, sich endlich einmal gegen sein „Schicksal“ aufzubäumen, sind Lehmanns Film und auch Lekys Roman ganz bei sich, rettet endlich einmal das Reden und nicht das Schweigen und Träumen diese kleine Welt.
Ausgespielt, also „radikalisiert“, wird dieser berührende Moment aber natürlich trotzdem nicht, dafür ist Lehmann dann doch der Vorlage zu treu und dürfte damit wohl jeden Leser auch sehr glücklich machen. Und wer weiß – vielleicht ist dieses Paradebeispiel einer kollektiven inneren Emigration auch wirklich ein Spiegel unserer Zeit, wie er passender nicht sein könnte.