Was Marielle weiß

Deutschland 2025 · 88 min. · FSK: ab 12
Regie: Frédéric Hambalek
Drehbuch:
Kamera: Alexander Griesser
Darsteller: Laeni Geiseler, Julia Jentsch, Felix Kramer, Mehmet Atesci, Moritz Treuenfels u.a.
Was Marielle weiß
Vor dem Abgrund der Normalität...
(Foto: DCM Film)

Schluss mit lustig

Frédéric Hambaleks filmisches Gedankenspiel über einen Alltag ohne Lügen ist klug und subtil und macht auch noch Spaß

Dass eine Ohrfeige die Welt verändern kann, konnte man schon aus dem groß­ar­tigen Roman The Slap (Die Ohrfeige) von Christos Tsiolkas lernen und natürlich auch in der konge­nialen austra­li­schen Seri­en­um­set­zung von Tsiolkas Roman sehen.

Doch ganz so multi­kulti wie in »The Slap« geht es in Frédéric Hambaleks auf der dies­jäh­rigen Berlinale im Wett­be­werb gestar­teten Film nicht zu. Aber es geht genauso um Identität und Iden­ti­täten und ihren fluiden, man könnte auch sagen, verlo­genen Charakter.

Der offenbart sich der gerade in die Pubertät wech­selnden Marielle (Laeni Geiseler), nachdem sie von ihrer Freundin geohr­feigt wurde. Plötzlich kann sie durch den Schlag ins Gesicht ausgelöste tele­pa­thi­sche Fähig­keiten abrufen, die die Fami­li­en­idylle, in der sie bis dahin zu leben glaubte, in Frage stellen. Und das mit Abrufen stimmt so natürlich auch nicht. Denn Marielle hat keine Wahl. Sie hört einfach, wie ihr Vater Tobias (Felix Kramer) bei seiner Marke­ting­tä­tig­keit in einem Verlag Dinge tut, die er beim Abend­essen anders darstellen wird, und ihre Mutter Julia (Julia Jentsch) auf ihrem Manage­ment­posten einen hand­festen Flirt prak­ti­ziert, den sie beim Abend­essen ebenfalls verschweigt, und der die wohl­behü­tete Ehe und damit das bislang harmo­ni­sche Fami­li­en­leben in Frage stellt.

Hambalek spinnt dieses Gedan­ken­spiel mit subtilen Dialogen munter fort. Zwar bedient er sich dabei hauch­zarter Elemente der Komödie, doch glück­li­cher­weise fällt er dabei nie in die im deutschen Film so gern bediente Klamotte ab, sondern nutzt nur die Momente des Staunens über die neuen Wahr­heiten aus, um sich ein wenig Erleich­te­rung in einer Situation zu schaffen, die natürlich todernst ist.

Denn: »Ohne Lüge leben: zur Situation des Einzelnen in der Gesell­schaft« – daran ist ja schon der große Soziologe und Philosoph Arno Plack verzwei­felt. Und nicht nur er. Gegen­bei­spiele sind rar gesät. Wie das aller­dings auch ohne Ohrfeigen gehen könnte, ist zeit­gleich mit dem Start von Was Marielle weiß in der beein­dru­ckenden filmi­schen Oslo-Trilogie von Johan Haugerud zu sehen. Wie die Menschen etwa in Oslo Stories: Liebe ihrer Sehnsucht nach Offenheit konse­quent folgen und offen über alles und mit jedem sprechen, ist tatsäch­lich ein prak­ti­ziertes Leben ohne Lüge.

In Frédéric Hambaleks kluger Versuchs­an­ord­nung wird dieser Anspruch allein über die großartig spielende und an die Königin von Niendorf erin­nernde Laeni Geiseler als puber­tie­rende Marielle eingelöst, die eine jugend­liche Heldin spielt, die nie lacht – ein viel zu selten eingelöstes Phänomen im deutschen Kino und wie gesagt, zuletzt war so etwas in Joya Thomes Königin von Niendorf vor über acht Jahren zu sehen, mit der ganz und gar umwer­fenden Lisa Moell in der der Haupt­rolle.

Ähnlich stark spielt hier Laeni Geiseler, so als ob sie selbst erkennt, dass diese Komödie nur ein Vehikel für den Ernst des Lebens ist, der vor allem im Kopf des Zuschauers entsteht, der sich diesem gefähr­li­chen Ethos – einem Leben ohne Lüge – viel­leicht wirklich nur durch ein linki­sches Lachen entziehen kann.

Was auf der Leinwand passiert, ist hingegen verzwei­felte Tragödie, ein Ringen um Lieben, Leiden und Wahr­haf­tig­keit. Und dann ist da noch dieses Glück, nach ihrer groß­ar­tigen Mutter­rolle in Johanna Moders düsterem Waren einmal Revo­luzzer (2019) Julia Jentsch in einer ähnlichen Rolle wieder­zu­sehen.

Nur eins hätte dieses kluge Kammer­spiel mit seinem wichtigen Thema, dem subtilen Drehbuch und dem tollen Ensemble verdient: eine mutigere ästhe­ti­sche Umsetzung als das hier darge­brachte allzu gepflegte TV-Feeling.