Schweiz 2020 · 112 min. · FSK: ab 0 Regie: Bettina Oberli Drehbuch: Cooky Ziesche, Bettina Oberli Kamera: Judith Kaufmann Darsteller: Agnieszka Grochowska, André Jung, Birgit Minichmayr, Jacob Matschenz, Marthe Keller u.a. |
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Familie (und Gesellschaft) am Abgrund | ||
(Foto: X Verleih/Warner Bros.) |
Es gibt Filme, denen es gelingt, mit Leichtigkeit von der Schwere der Welt zu erzählen, die mit einfachen Mitteln auch komplexe wirtschaftspolitische Beziehungen entschlüsseln können und die mit Humor und erzählerischer Finesse die finsteren Folgen dieser Zustände aufzulösen verstehen. Cédric Klapischs Mein Stück vom Kuchen (2011) und Adam McKays The Big Short (2015) sind Beispiele dafür und auch Bettina Oberlis neuer Film gehört dazu.
Oberli erzählt von einer wohlhabenden Familie am Zürichsee, deren 70-jähriges Oberhaupt Josef (André Jung) nach einem Schlaganfall durch die polnische Pflegerin Wanda (Agnieszka Grochowska) betreut wird, aber auch Josefs Frau Elsa (Marthe Keller) erwartet im Haushalt Unterstützung von Wanda, und der bei den Eltern lebende erwachsene und emotional bedürftige Sohn Gregi (Jacob Matschenz) rundet eine dysfunktionale Familienaufstellung ab, die erschreckend an die Welt von lauter ungelebtem Leben aus Fritz Zorns bereits 1977 erschienenem autobiografischen Bericht Mars erinnert. Über Video-Chats und Wandas turnusmäßige Besuche bei ihren Kindern und Eltern in der Heimat zeichnet Oberli auch ein sehr konkretes Bild der prekären Parallelwelt, in der Wanda eigentlich zuhause ist. Risse bekommt dieses für beide Seiten lukrative Modell erst, als Wandas »ganzheitliche« Pflege von Josef zu einer Schwangerschaft führt und Josef und Elsas kinderlose Tochter Sophie (Birgit Minichmayr) eine Adoption durchsetzen will.
Oberli inszeniert diese mit Cooky Ziesche entwickelte Geschichte in drei Kapiteln, die jeweils durch die Abholung Wandas durch ein Familienmitglied vom polnischen Fernbus eingeleitet werden. Mit jedem Mal wird dabei deutlicher, wie sehr Wanda als »Fremdkörper« das nur scheinbar stabile System Familie ins Wanken bringt, plötzlich undenkbare Wahrheiten ausgesprochen werden und sich die Machtkonstellationen innerhalb der Familie zu verändern beginnen. Gleichzeitig legt Oberli die wirtschaftlichen Hierarchien und Abhängigkeiten eines Systems bloß, das nur oberflächlich eine Win-Win-Situation darstellt, sondern ähnlich den weltwirtschaftlichen Globalisierungsstrukturen nur durch die Stabilisierung der bestehenden ungleichen Machtverhältnisse funktionieren kann. Nicht anders als in der gezeigten Familie.
Diese subtile und kluge Spiegelung von Mikro- und Makro-Ebene zeigt jedoch nicht nur, dass Wirtschaft nicht anders als Familie funktioniert, sondern macht über das Beispiel der kleinen Welt auch deutlich, wie schwer sich bestehende Verhältnisse verändern lassen, wie schwierig es für jeden Beteiligten ist, einen Verlust für eine nur fiktiv im Raum stehende bessere Zukunft in Kauf zu nehmen. Aber auch welche Gefahren solche wieder und wieder reproduzierten Ungleichsysteme bergen, und einen meist dann einholen, wenn man es nicht erwartet, so wie der historische Bumerang, der England so unerwartet wie plötzlich traf, nachdem man die bis zum Ende des Mogul-Reichs dominierende indische Textilindustrie nach Nordengland »zwangsverlegt« hatte und fast hundert Jahre später sowohl mit den dadurch ausgelösten Einwanderungswellen als auch einer nie gesehenen textilen Preisdumpingpolitik aus Indien konfrontiert wurde.
Dass es die klugen, vorausschauenden Veränderungen weder in Familien noch in weltwirtschaftlichen Prozessen gibt, macht uns auch Wanda, mein Wunder klar, aber immerhin wagt der Film im dritten Teil und im Epilog ein mutiges Gedankenspiel, wird mit Hilfe von immer drastischeren komödiantischen Elementen und einem kaum mehr erträglichen, jedem vorgehaltenen Zerrspiegel gezeigt, was im Kleinen alles möglich ist und ja vielleicht auch im Großen funktionieren kann.
Diese Botschaft wird jedoch nie zu aufdringlich präsentiert, sondern bleibt über das großartig aufspielende Ensemble, die spielerische Inszenierung und die fantastische Montage von Kaya Inan (für die er mit dem Schnitt-Preis 2021 ausgezeichnet wurde), dezent aber wirkungsvoll pulsierend im Hintergrund.