Waves

USA 2019 · 137 min. · FSK: ab 12
Regie: Trey Edward Shults
Drehbuch:
Kamera: Drew Daniels
Darsteller: Kelvin Harrison Jr., Taylor Russell, Lucas Hedges, Alexa Demie, Renée Elise Goldsberry u.a.
Filmszene »Waves«
Unerbittliche Geschichte afro-amerikanischer Identitätssuche
(Foto: Universal Germany)

Diptychon der Verzweiflung und Hoffnung

Waves vereint wie nur selten in der filmischen Aufarbeitung afro-amerikanischer Marginalisierung zwei Extreme und zeigt am Ende völlig unaufgeregt, dass Reden vielleicht doch hilft

Zwar sind die BLM-Aktionen im Zuge des Todes von George Floyd in den USA langsam am Abebben, doch das ameri­ka­ni­sche Kino hat selbst in Corona-Zeiten noch die Kraft, intensiv nach­zu­legen. Stand das letzte Woche in Deutsch­land gestar­tete Sklaverei-Drama Harriet etwa noch ganz im Zeichen einer Aufar­bei­tung von histo­risch tradiertem Rassismus, beschäf­tigt sich Ted Edward Shults Waves mit dem gegen­wär­tigen Alltag einer afro-ameri­ka­ni­schen Familie der oberen Mittel­klasse. So wie in der eindring­li­chen Jugend­buch­best­seller-Verfil­mung The Hate U Give wird auch in Waves eine Coming-of-Age-Geschichte erzählt, in der die Margi­na­li­sie­rung afro-ameri­ka­ni­scher Kultur eine wichtige Rolle spielt. Doch anders als in The Hate U Give, wo die portä­tierte Familie über die Black-Panther-Vergan­gen­heit des Vaters sich in klarer Abgren­zung zur weißen Kultur dezidiert als »Schwarz« versteht und darunter leidet, sehen wir in Waves einer Familie zu, die durch ihre Über­as­si­mi­lie­rung zu zerbre­chen droht.

Dieses Zerbre­chen wird über Tyler (Kelvin Harrison Jr.) und seinen Vater Ronald (Sterlin K. Brown) exem­pla­risch erzählt. Tyler steht kurz vor dem Abschluss an der High School; er ist unter Freunden so beliebt wie in der Schule und in seinem Sport­verein, wo er als Ringer erfolg­reich ist. Doch durch eine beim Ringen erlittene und dann verschleppte Verlet­zung an seiner Schulter wird eine Ketten­re­ak­tion ausgelöst, die das Selbst­ver­ständnis der erfolg­rei­chen Familie drama­tisch erschüt­tert. So wie in der US-Serie »This is Us«, in der Sterling K. Brown eine verblüf­fend ähnliche Rolle spielt, kreist auch Waves um inter­na­li­sierte Erwar­tungs­hal­tungen, nach denen Schwarze nur dann erfolg­reich sein können, wenn sie doppelt so gut wie Weiße sind.

Diesen von Genera­tion zu Genera­tion vermit­telten Anspruch zeigt Waves in all seiner verzwei­felten Tragik und mit einer realis­ti­schen, wuchtigen Inten­sität, die nicht nur durch die über­ra­genden Schau­spieler noch einmal verstärkt wird, sondern auch durch eine Kamera (Drew Daniels), die mit ihren langen Einstel­lungen und dras­ti­schen Format- und Farb­raum­me­ta­mor­phosen ganz ähnlich wie Barry Jenkins in Moonlight die Geschichte nicht nur geogra­fisch, sondern auch psycho­lo­gisch auf lyrisch-expres­sive Art und Weise mitein­ander verschränkt und verankert. Auch in Waves befinden wir uns übrigens wie in Moonlight in Florida, einem Florida, das so weit von dem Florida Barry Jenkins' entfernt ist, dass man einmal mehr versteht, warum das gegen­wär­tige Amerika derartig gespalten ist.

So emotional und immer wieder auch pathe­tisch Shults, der auch für das Drehbuch verant­wort­lich ist, den ersten Teil seines Dramas unter­füt­tert, so über­ra­schend zärtlich und still insze­niert er den zweiten Teil. Statt Tyler tritt nun Tylers jüngere Schwester Emily (Taylor Russel) ins Zentrum der Erzählung, die sich mit einem Freund ihres Bruders aus dem Ringer­verein anfreundet. Luke (Lucas Hedges) ist weiß, doch das hält beide nicht davon ab, sich gegenüber dem Anderen zu öffnen und schließ­lich zu einem Roadtrip nach Columbia, Missouri, aufzu­bre­chen, um Lukes im Sterben liegenden Vater aufzu­su­chen, einen Vater, an den Luke nur schlechte Erin­ne­rungen hat. Shults, der bereits in seinem beein­dru­ckenden Debüt KRISHA (2015) auto­bio­gra­fisch arbeitete, inte­griert mit dem Besuch des Vaters erneut eigene Traumata. So dürfte Luke nicht nur das Alter Ego Shults' sein, sondern auch die Begegnung mit Lukes Vater eine biogra­fi­sche Notiz über Shults' eigenen, alko­hol­kranken Vater darstellen.

Der Wechsel in Struktur, Inhalt und Tempo, vom lauten und farblich so disparat-dysto­pisch ersten Teil von Waves, mit seiner uner­bitt­li­chen Geschichte von trau­ma­ti­sierter afro-ameri­ka­ni­scher Iden­ti­täts­suche, Schuld und Sühne, und einer Reise in die Vergan­gen­heit archai­scher Miss­ver­ständ­nisse ins völlige Gegenteil ist so über­ra­schend wie atem­be­rau­bend. Denn statt in einer hoff­nungslos verwor­renen Vergan­gen­heit befinden wir uns plötzlich auf einer Reise in eine Zukunft von fast schon visionär-utopi­scher Qualität. Es ist eine Zukunft, in der zwischen Schwarz und Weiß, Mann und Frau über eine vorsich­tige Dialog­be­reit­schaft Grenzen über­schritten werden und am Ende nur noch Menschen zu sehen sind, die sich ihrer Schwächen bewusst sind und diese auch einge­stehen, um ein Leben mitein­ander und nicht gegen­ein­ander zu führen.

Um die Fragi­lität dieser Vision zu verdeut­li­chen, tauchen Shults und sein Kame­ra­mann Drew Daniels den zweiten Teil in ein fast schon ausgelöschtes Farb­spek­trum, oder viel­leicht besser und passender: in ein gerade entste­hendes Farben­meer in Amerikas Mittlerem Westen, in das das junge Liebes­paar nicht nur unauf­fällig eintaucht, sondern von den beiden Haupt­dar­stel­lern Lucas Hedges (Manchester by the Sea) und Taylor Russel (Lost in Space) so filigran, vorsichtig und suchend darge­stellt wird, dass am Ende tatsäch­lich so etwas wie eine Symbiose entsteht und die Beziehung von Lucas und Emily so real wird wie die immer kräftiger werdende Farb­pa­lette.