Wege des Lebens – The Roads Not Taken

The Roads Not Taken

GB/USA/S/PL/E 2020 · 86 min. · FSK: ab 0
Regie: Sally Potter
Drehbuch:
Kamera: Robbie Ryan
Darsteller: Javier Bardem, Elle Fanning, Salma Hayek, Laura Linney, Branka Katic u.a.
Filmszene »Wege des Lebens - The Roads Not Taken«
Gemeinsam allein – mit den eigenen Sehnsüchten und Träumen, gescheiterten und nicht gescheiterten Beziehungen
(Foto: Universal)

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Sally Potter entgleitet ihr Demenz-Drama zwar immer wieder in diffuse Nebel, dennoch geht Potters Film mit seinem unkonventionellen Ansatz und seiner schauspielerischen Intensität weit über das normale »Demenzdrama« hinaus

»Wir werden von einem Leiden nur geheilt, indem wir es bis zum Letzten auskosten.« – Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlo­renen Zeit

Wie weit die Beschäf­ti­gung mit Demenz und die fast schon selbst­ver­ständ­liche Inte­gra­tion in den öffent­li­chen Diskurs inzwi­schen gediehen ist, zeigte erst letztes Jahr Mischa Kamps großar­tiger »Fami­li­en­film« Romys Salon, in dem sich die zehn­jäh­rige Romy auf die völlige Verwand­lung ihrer Groß­mutter einstellen muss, in dem die Krankheit aber auch als Chance darge­stellt wird, um alte, verkrus­tete Bezie­hungen zu restau­rieren.

Auch Sally Potters melan­cho­li­sches Demenz­drama Wege des Lebens – The Roads Not Taken konzen­triert sich auf diesen Ansatz. Zwar illus­triert sie, wie schon Sarah Polley in ihrem tollen Regie­debüt An ihrer Seite (2004), Richard Glatzer und Wash West­mo­re­land in ihrem eindring­li­chen Still Alice – Mein Leben ohne Gestern (2014) oder Paolo Virzi mit seinem virtuosen Leuchten der Erin­ne­rung (2017), auch den gnaden­losen Persön­lich­keits­ver­lust, der mit einer Demenz einher­geht, zeigt den Mitt­fünf­ziger Leo (Javier Badem), wie er von seiner Tochter Molly (Elle Fanning) einen Tag lang in New York betreut wird und ihr dabei immer wieder zu entgleiten droht.

Doch neben dem verzwei­felten Umgang mit Demenz, wobei auch Leos Ex-Frau (Laura Linney) keine wirklich dees­ka­lie­rende Rolle spielen kann, zieht Potter einen wichtigen erzäh­le­ri­schen Überbau mit ein – die Suche nach den Stellen im Leben, die die eigene Zukunft nach­haltig anders gestaltet hätten und in der auch der Tod eines Kindes eine wichtige Rolle spielt. Wir sehen Zeit also nicht linear verlaufen, sondern erfahren in einem leicht esote­ri­schen Ansatz den Zeitfluss als Spirale, ein Zeit­ge­fühl, das Potter bei ihrem ebenfalls in frühem Alter an Demenz erkrankten (und verstor­benen) Bruder beob­achtet hat.

Potter findet dafür eindrück­liche Bilder und Passagen, wir sehen Leo in seinem jetzigen Alter an den Stellen seines jüngeren Lebens auftau­chen, an denen unwei­ger­liche Weichen für die Zukunft gestellt wurden, sei es als Fami­li­en­vater oder Schrift­steller. Diese Lebens­ent­wurfs­vi­gnetten werden konse­quent gegen die absehbare Auslö­schung eben dieser Lebens­linie geschnitten und könnten uner­trä­g­li­cher kaum sein. Doch was nach außen wie eine totale Kapi­tu­la­tion wirkt, ist innerlich eine Befreiung, Potter geht wie Mischa Kamp hier einen sehr unkon­ven­tio­nellen Weg, um das Krank­heits­bild in seiner ganzen Komple­xität zu ergründen. Zwar versteht Potter die Krankheit nicht wie Kamp in Romys Salon als Chance, reale Bezie­hungen zu erneuern, dafür sieht sie immerhin die Chance auf eine finale Abrech­nung mit dem eigenen Leben, mit den eigenen Sehn­süchten und Träumen, geschei­terten und nicht geschei­terten Bezie­hungen, auch wenn die Betei­ligten in der realen Welt daran nicht parti­zi­pieren können.

Potters Film entgleitet durch diesen subjek­tiven, asso­zia­tiven Ansatz immer wieder selbst in einen dementen Nebel, verliert bzw. rela­ti­viert die drama­ti­schen Aspekte des Lebens, die ja gerade in der realen Inter­ak­tion der Betei­ligten entstehen. Dadurch verliert sich ein an sich wegwei­sender Moment wie der Tod eines Kindes schnell in esote­ri­schem Niemands­land statt wie in Kenneth Lonergans Manchester by the Sea zu einer greif­baren Trau­ma­ti­sie­rung zu werden, reicht eine Tochter in ihrer losen, schwer zu grei­fenden Betreu­ungs­ver­zweif­lung nicht an den Verlust einer Ehe wie in Sarah Polleys dichtem Demenz-Drama An ihrer Seite heran.

Dennoch geht Potters Drama mit seinem unkon­ven­tio­nellen Ansatz, eine zunehmend unseren Alltag prägende Krankheit zu verstehen, und der schau­spie­le­ri­schen Inten­sität weit über ein simples »Demenz­drama« hinaus.