Deutschland 2021 · 125 min. · FSK: - Regie: Manuel Fenn Drehbuch: Manuel Fenn, Thomas Jeschner Schnitt: Antonia Fenn |
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Der eingefrorene Planet aus der Sicht seiner Bewohner | ||
(Foto: 36. DOK.fest@home) |
Die Ermüdung ist verständlich. Will man sich wirklich noch mehr mit der Pandemie beschäftigen? Vor allem jetzt, da (wieder mal) gelockert wird? Aus jedem Kanal dringen doch gefühlt rund um die Uhr die neuesten Statistiken, Zahlen und Einschätzungen. Am Ball zu bleiben und sich eine fundierte Meinung bilden, kann man schon als harte Arbeit bezeichnen. Und nun noch ein zweistündiger Dokumentarfilm dazu? Im Falle von Manuel Fenns Die Welt jenseits der Stille sollten die Scheuklappen jedoch abgelegt werden. Wahnsinnig neue Fakten hat der Film zwar nicht zu bieten, doch dafür etwas viel wichtigeres, das in der Dauerberieslung mit Inzidenzwerten in den Hintergrund gerückt ist: die Situation des Einzelnen in einer Lage, die alle betrifft.
Fenn zeigt in zwölf Miniaturen Schicksale aus der ganzen Welt. Wir begleiten eine polnisch-stämmige Altenpflegerin, die in Rom gefangen ist, da sie nicht mehr in ihr Heimatland reisen kann. Eine Familie aus Bolivien ist mit sich selbst allein und das mitten in der Scheidungsphase. In Russland wandelt sich ein DJ vom Untermaler des Nachtlebens zum Stream-Entertainer. Und ein chinesischer Kung-Fu-Trainer sieht sich in Berlin in der leeren Trainingshalle wieder. Für ihn ist das zurückhaltende Handeln der Politik und die »Rücksichtslosigkeit« der deutschen Bevölkerung vollkommen unverständlich.
Es sind Geschichten, die das Publikum kennt. Schicksale, die es im Umfeld erlebt oder sogar selbst ertragen muss. Die meisten Protagonisten aus Die Welt jenseits der Stille könnte man austauschen, gleichzeitig sind sie jedoch Musterbeispiele für die Lage, in der wir uns seit über einem Jahr befinden. Fenn zeigt den Menschen, der aus seiner bisherigen Lebensrealität gerissen wurde, mit all seinen unterschiedlichen Sorgen, Ängsten und Meinungen. Er selbst hält sich mit Einordnungen zurück und lässt die Frauen und Männer sprechen, die er mit der Kamera begleitet. Diese Objektivität gibt dem Geschehen etwas wirklich Universelles, das über das Zeigen einzelnen Leidens hinausgeht.
Das hätte der Film natürlich nicht, wenn er in der uns bekannten Alltagswelt bleiben würde. In Israel wird eine junge Frau aus ihrem selbstbestimmten Leben gerissen und zurück zu ihrer ultraorthodoxen Familie gezwungen, ein indigener Stamm Brasiliens sieht sich mit der Pandemie allein gelassen, während in Kenia ganze Stadtviertel abgeriegelt und das schwierige Überleben noch komplizierter wird. Was Die Welt jenseits der Stille nun auszeichnet, ist der Weg, wie sein Regisseur all diese Miniaturen gleichberechtigt nebeneinanderstellt. Objektiv betrachtet haben es hier einige Darsteller schwerer als andere. Aber natürlich ist Leiden etwas, das sich nicht so einfach bewerten lässt. Der obdachlose, doch berufstätige Pizzabäcker aus New York macht einen optimistischeren Eindruck als die europäische Familie, die in ihrer Dreizimmerwohnung den Skype-Kontakt zur Außenwelt hält. Die ganzen Einteilungen in Vernünftige und Unvernünftige, Systemrelevante und -irrelevante, Priorisierungsgruppe 1 bis X ist von Manuel Fenn aufgehoben. Für ihn zählt das Individuum, egal ob er oder sie den Lockdown als Hölle oder Erholung sieht.
Dieser Dokumentarfilm schafft einen Zugang zum leidigen Thema Covid 19, den die rein journalistische Herangehensweise nicht bieten kann, einen, der vielleicht nur durch seine Gattung möglich ist. Man kann sich vor der jetzigen Situation nicht verschließen, zur gleichen Zeit ist man dauernd konfrontiert mit Daten und Einteilungen in richtig und falsch, die einem schnell über den Kopf wachsen. Die Welt jenseits der Stille zeigt keine Kategorien, sondern den eingefrorenen Planeten aus der Sicht seiner Bewohner. Im Endeffekt also aus unserer, die hinter dem unnahbaren Begriff »Bevölkerung« stehen. Kurz gesagt: Obwohl man in diesen Zeiten zum Eskapismus neigt, ist dieser Film eine Wohltat!