Großbritannien 2011 · 110 min. · FSK: ab 16 Regie: Lynne Ramsay Drehbuch: Lynne Ramsay, Rory Kinnear Kamera: Seamus McGarvey Darsteller: Tilda Swinton, John C. Reilly, Ezra Miller, Siobhan Fallon, Ursula Parker u.a. |
||
Mit Kunsteffekten verbrämte Verteidigung des Irrationalen |
Ein Baby wird geboren und man würde gern glauben, dass nun für die Kleinfamilie im Zentrum dieses Films das reine Glück beginnt. Doch aus den ersten, ganz in blutiges Rot getauchten, seltsam bedrohlichen Bildern wissen wir schon, dass wir dem Frieden nicht trauen dürfen.
»He’s just a sweet little boy.« – Nein, einfach ein süßer kleiner Junge das ist Kevin eben nicht. Das wird schnell klar. Aber was ist er dann? Was ist mit Kevin, warum heißt es schon im Titel, man
müsse über ihn reden?
In Elipsen erzählt der Film der schottischen Filmregisseurin Lynne Ramsay vom Heranwachsen eines Jungen zum Teenager, von einer Mutter, die zuerst dem eigenen Empfinden nicht traut, und dann doch spürt, dass sie ein Kind heranzieht, mit dem etwas nicht stimmt. Parallel dazu geht es auch um das Nachleben nach einer Katastrophe. Früh ahnen wir, aber erst gegen Ende wird Gewissheit, worin diese Katastrophe genau besteht, in die Kevin offensichtlich verwickelt ist.
We Need To Talk About Kevin ist eine ganze Menge zugleich: Ein bildkräftiger Essay über die Farbe Rot, ein Familienportrait im Collagestil, das einen Vater zeigt, der bis zur Dummheit ignorant ist, und eine überforderte Mutter. Eine Charakterstudie über eine Frau, die ihre Unabhängigkeit für die Familie aufgegeben hat, und in ihrer neuen, halb aufgezwungenen Rolle nicht glücklich wird. Und eine Sozialstudie über die Natur von Suburbia, jenen Inbegriff der amerikanischen Vorstädte, in denen das Glück und die Hölle so nahe zusammenliegen, wie sonst nie, in denen – zumindest im Kino – die Familie fast immer ein Terrorzusammenhang ist. Zuletzt und vor allem ist dies aber ein Film über das Böse, über das Wesen des Bösen.
Denn darin liegt die wahre Provokation dieses Films: Er bietet zwar mögliche Ursachen an, aber er löst das Rätsel nicht auf, warum es Kinder gibt, die schon, bevor sie sprechen können, anders sind, als andere Kinder, die Aggressionen entwickeln, asoziales Verhalten, unerklärlichen Hass und eine Bosheit, der mit gutem Zureden einfach nicht beizukommen ist.
Eine metaphysische Botschaft sollte man trotzdem bitte nicht vermuten. Am Ende ist dieser gesittete, bürgerliche Film nichts anderes als ein Monsterfilm besonderer Art. Mit We Need to Talk About Kevin hat Ramsay einen abgründigen Psychothriller gedreht, einen Film, der ebenso meisterhaft ist, wie schockierend. Wunderbar funktioniert der Film vor allem in seiner ersten Hälfte, in einer sog-artigen, rauschhaften und rätselvollen Überlagerung von extrem widersprüchlichen Eindrücken, Atmosphären und Assoziationen, Puzzlesteinen, die sich erst allmählich zu einen Panorama des familiären Wahnsinns bündeln.
Und doch bleibt bei aller Kunst, bei allem Können der Regisseurin und ihrer wunderbaren Hauptdarstellerin Tilda Swinton auch ein Unbehagen zurück, das Gefühl, diesem Film fehle etwas.
Das liegt wohl nicht zuletzt auch an Ramsays Erzählweise. Ihr Hin und Her zwischen Davor und Danach macht nicht wirklich Sinn, hat zunehmend etwas Prätentiöses – als solle die Form hier die eigentlich gradlinige Geschichte aufpeppen und interessanter machen, als sie von selber ist.
Wenn
man den Film und seine Auflösung kennt, dann begreift man, dass Ramsay mit Vertuschungsmanövern arbeitet, dass sie einen Großteil ihrer Kunst dazu verschwendet, um den heißen Brei herumzureden, anstatt ihn am Kochen zu halten, und die bewusst offen gehaltenen Fragen und schwarzen Löcher ihres Stoffs aufzuklären.
So wird ein Film, der sich der Ästhetik der Moderne und des Autorenkinos bedient, in seinem Effekt eine mit Kunsteffekten verbrämte Verteidigung des Irrationalen.
So ähnlich wie der Versuch der Mutter in diesem Film, die ihr Kind, um sein schreckliches Schreien endlich einmal zu übertönen, es kurzerhand neben einen Presslufthammer stellt.