Weit weg

Loin

Frankreich/Spanien 2001 · 120 min.
Regie: André Téchiné
Drehbuch: ,
Kamera: Germain Desmoulins
Darsteller: Stéphane Rideau, Lubna Azabal, Mohamed Hamaïdi u.a.

Zwischen Weggehen und Ankommen

Vom Weggehen, von Aufbrüchen haben die Filme von André Téchiné immer schon gehandelt. Und immer vermit­telten auch Kamera und Montage etwas von dem Elan, der die junge Heldin in Rendez-vous oder den jungen Helden in J'embrasse pas fortriß aus der fran­zö­si­schen Provinz und nach Paris warf, eine Stadt, in der sie schei­terten und schmerz­haft ins Leben einge­führt wurden. Im letzten Film Téchinés, in Alice et Martin, schien diese Bewegung in ober­fläch­li­cher Prospekt-Schönheit erstarrt, schien die Kraft schon unter der etiket­ten­haften Bebil­de­rung begraben, noch bevor sie sich im Anlauf gegen das Scheitern veraus­gaben konnte.

Téchiné scheint das selber gespürt zu haben, denn für seinen neuen Film Loin – Weit weg ist er, der prin­zi­piell nicht mit dem Flugzeug reist, für seine Verhält­nisse tatsäch­lich weit weg gegangen, nach Marokko, nach Tanger. Er wollte sich, so sagte er, vom heutigen Tanger, von der Atmo­s­phäre der Stadt beein­flussen lassen. Gedreht wurde wegen der größeren Beweg­lich­keit des Teams mit einer Digi­tal­ka­mera, jedoch so, daß es sich nicht aufdrängt, der Film nicht mit Gewalt einen rauhen, expe­ri­men­tellen Eindruck bekommt. Der Bruch jeden­falls mit der früheren, eleganten, in Alice et Martineben schon zu glatten Bild­füh­rung im Scope-Format ist deutlich.

Die direktere Heran­ge­hens­weise, der radikale Orts­wechsel gibt der vertrauten Thematik von Aufbruch und Wegwollen wieder etwas von der alten Dring­lich­keit zurück, auch wenn die Figuren unent­schie­dener und zauder­li­cher geworden sind, darin ein wenig anknüpfen an die Figuren Patrick Dewaeres und Etienne Chicots in Téchinés wunder­barem Hôtel des Amériques (Begegnung in Biarritz) aus dem Jahr 1981.

Serge in Loin hat als Trans­port­fahrer den Orts­wechsel, das Weggehen und Ankommen, zum Beruf gemacht und scheint dabei in einem aussichtslos schei­nenden Hin und Her zwischen Marokko und Frank­reich, zwischen Gegenwart und Abwe­sen­heit gefangen zu sein. Das läßt auch seine Liebes­be­zie­hung zu Sarah in einer quälenden Schwebe verharren, die Körper der beiden scheinen den Phasen der Trennung und den Momenten leiden­schaft­li­cher Kollision wie einem physi­ka­li­schen Gesetz unter­worfen zu sein.

Sarah wiederum, Betrei­berin einer Pension in Tanger, trägt sich mit dem Gedanken, die Pension aufzu­geben und zu ihrem Bruder nach Kanada zu gehen. Sie steht unter dem Druck, mit der Freiheit, die sie nach dem Tod ihrer domi­nanten Mutter gewonnen zu haben meint, wirklich etwas anfangen, ihr Leben endlich in die Hand nehmen zu müssen.

Der in Sarahs Pension arbei­tende Said, ein Freund Serges, ist die dritte Haupt­figur in diesem Film; er ist ständig in Bewegung mit seinem Fahrrad. Er stammt aus einer armen Tagelöh­ner­fa­milie, und seine Unrast nährt sich von dem Wunsch wegzu­kommen, der wie der Hunger seiner Kindheit in ihm arbeitet. Er will nach Frank­reich, über Spanien, als Illegaler, egal wie.

Der Film schildert den begrenzten Zeitraum von drei Tagen, genau die drei Tage, die eine Trans­port­fahrt Serge nach Tanger führt, drei Tage, an denen Serge, Sarah und Said versuchen, wieder einmal Klarheit zu schaffen. Said hilft Serge bei der Versöh­nung mit Sarah, indem er ein zufäl­liges Treffen der beiden herbei­führt. Als Gegen­leis­tung hat er Serge das Verspre­chen abge­nö­tigt, daß er auf dessen Lastwagen als blinder Passagier mitfahren darf, nach Europa. Doch Serge sträubt sich, das gegebene Verspre­chen einzu­lösen, da er sich bereits auf einen Deal als Drogen­ku­rier einge­lassen hat.

Téchiné gelingt es, in die Verwick­lungen der drei Haupt­fi­guren noch eine Menge weiterer Figuren zwanglos einzu­binden, Figuren zwischen den Welten, zwischen Kommen und Gehen, zwischen gestern und heute. Mit dem Schrift­steller James etwa, dessen Figur Paul Bowles nach­emp­funden ist, verdeut­licht Téchiné, daß das alte, von Exis­ten­tia­listen, Beatniks und Kiffern geprägte Bild von Tanger und vom Leben in der Fremde dort sich mitt­ler­weile überlebt hat. Andere Geschichten schieben sich nach vorne, Geschichten aus einer Stadt des Tran­sit­ver­kehrs, des Umschlags von Waren und Menschen zwischen Dritter und Erster Welt. Geschichten, in denen Desi­gner­hemden eine Rolle spielen, die aus impor­tierten Stoffen in Marokko billig herge­stellt und dann wieder nach Frank­reich expor­tiert werden, Geschichten von Menschen wie Said und denen, die sich zu den Park­plätzen begeben, wo die LKWs stehen, die auf die Fähren einge­schifft werden. Dort lauern sie auf eine Gele­gen­heit, durch die Polizei und Zoll­kon­trollen zu kommen und als blinde Passa­giere auf die LKWs gelangen.

Das alles versteht Téchiné wie nebenbei einzu­bauen, ohne damit seinen Figuren Botschaften aufzu­halsen. Er versteht darüber hinaus, die Stadt als physisch präsente Räum­lich­keit erstehen zu lassen, in einigen eindring­li­chen Fahrten, die an die Raum und Milieu erschließende Kraft erinnern, die die Kamera in seinen früheren Filmen hatte. Auf diese Art bilden die Figuren und ihre Geschichten, bilden die Neben­fi­guren und der Ort, an dem sie alle leben, eine beweglich-bewegte Einheit, ein Inein­ander und Neben­ein­ander, das sich selbst zu tragen und zu halten scheint.