Deutschland 2018 · 85 min. · FSK: ab 0 Regie: Hermann Vaske Drehbuch: Hermann Vaske Kamera: Patricia Lewandowska, Sasha Rendulic, Evgeny Revvo Schnitt: Dennis Karsten, Marie-Charlotte Moreau, Carsten Piefke |
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Kreative Ambiguität |
»Wenn Sie aus Uganda anrufen: Der Kühlschrank ist schon verkauft!« So lautete die kryptische Ansage des Anrufbeantworters, die der zunehmend frustrierte Dokumentarfilmer Hermann Vaske immer wieder zu hören bekam, als er den Regisseur David Lynch telefonisch zu erreichen versuchte. Das war zwar noch keine Antwort, auf Vaskes stets gleiche Frage: »Why are you creative?«, aber dafür ein umso prägnanteres Beispiel dafür, wie wahre Kreativität aussehen kann.
Anfang der 1980er-Jahre hatte Vaske dem Werber Paul Arden die Frage gestellt: »Why are we creative?« Arden war der Kreativdirektor bei der Londoner Werbeagentur Saatchi & Saatchi, bei der damals auch Vaske arbeitete. Seither hat den Filmemacher diese Frage nicht mehr losgelassen. Im Laufe von 30 Jahren hat er über 1000 bekannte Kreative zu jeder günstigen und ungünstigen Gelegenheit gefragt: »Why are you creative?«
Sein jetziger Film Why Are We Creative? ist eine handverlesene Auswahl aus vielen Hundert Stunden Material. Handverlesen ist diese auch deshalb, weil Vaske zunächst den auf Audiokassetten, 8mm- und 16mm-Film, BetaSPs, Digibetas, Festplatten mit Material in HD, 2K und 4K und sogar Micro-Kassetten verteilten Datenwust zusammenklauben und teilweise erst digitalisieren musste. Diese disperse Herkunft des Materials verleiht dem fertigen Film einen entsprechend zusammengestückelten Eindruck, der zugleich sehr gut zu dem behandelten Thema passt. Und damit es noch ein wenig wilder wird, hat Vaske auch noch ein paar lustige – aber nicht jederzeit speziell motiviert wirkende – Animationen eingebaut.
Doch der größte Teil des Films besteht aus Vaskes Interviews mit diversen Prominenten, welche sich wiederum zumeist auf die eine zentrale Frage beschränken: »Why are you creative?« Dabei geht es Schlag auf Schlag, sodass dem Zuschauer kaum Zeit zum Atemholen bleibt. Über 80 Minuten lang heißt es praktisch nur: Frage, Antwort, Frage, Antwort, zack, zack, zack! Dabei bis zum Ende am Ball zu bleiben, kann mit der Zeit ein wenig ermüdend werden. Aber wer sich davon nicht beirren lässt, der wird dafür mit einer entsprechend hohen Informationsdichte belohnt. Informationsdichte will hier allerdings keineswegs »klare Antwort(en)« heißen.
Wer mit der Erwartungshaltung an Why Are We Creative? herangeht, in dem Film ein kinderleichtes und zugleich todsicheres Rezept präsentiert zu bekommen, mit dessen Hilfe man seine eigene aktuell im Tiefschlaf schlummernde Kreativität aktivieren bzw. seine bereits aktive kreative Energie im Handumdrehen in Höhen jenseits der Stratosphäre schnellen lassen kann, der dürfte 82 Minuten später bitter enttäuscht sein. Denn wenn Why Are We Creative? eine Sache völlig klar macht, dann ist es die Erkenntnis, dass auf genau diese Frage keine klare Antwort erwartet werden darf.
Why Are We Creative? Anstatt ein Ei des Kolumbus, eine wirksame alchemistische Formel zum Umwandeln von Blei in Gold zu präsentieren, zeigt dieser Film so viele verschiedene Antworten wie Personen, denen Vaske diese Frage stellt. Paul Arden deutet zur Antwort entschlossen zu seiner Rechten, wo sein Grafiker-Vater sitzt. Dagegen betont der Regisseur Wayne Wang, dass seine Kreativität die Antwort auf sein spießiges Elternhaus sei. Der Game-of-Thrones-Autor George R.R. Martin wiederum grübelt bei der Frage lange in seinen nicht minder langen Bart hinein. Theorien zum Ursprung der Kreativität gebe es viele. Woher seine Ideen jedoch letztendlich wirklich kommen, sei ihm ein völliges Rätsel. Dementsprechend groß sei seine Angst, dass diese Ideen eines Tages nicht mehr zu ihm kommen könnten – und er infolgedessen für immer verstummen müsste.
Hermann Vaske selbst beeindruckte am meisten die Antwort von David Bowie: »I am who I am. I am not afraid to be different.« Und dem Verfasser dieser Zeilen erschien die Beobachtung von John Cleese als besonders schlüssig, dass Menschen, die in ihrer Jugend mindestens zwei unterschiedliche Sichtweisen unter einen Hut bringen mussten, später in der Regel kreativer als jene sind, bei denen dies nicht der Fall war.
Abenteuerlich wird es, als Vaske seine Frage auf eine höhere Ebene zu heben versucht. Der chinesische Künstler Ai Wei Wei und eine Aktivistin von Pussy Riot betonen, dass Kunst in gleich mehrfacher Hinsicht auch äußerst gefährlich sein kann. George H.W. Bush versteht: »Why am I created?« – und droht ungehalten zu werden. Wie immer die Freundlichkeit in Person ist dahingegen der Dalai Lama (Der letzte Dalai Lama?). Und als Vaske schließlich »den klügsten Menschen auf der Welt« Stephen Hawking fragt, ob Kreativität oder Wissenschaft wichtiger seien, tippt dieser in seinen Sprachcomputer, dass die Frage keinen Sinn ergebe, da ein guter Wissenschaftler immer auch kreativ sein müsse – und legt dazu ein schiefes Grinsen auf.
Für den einen mag die Vielfalt an unterschiedlichen, zum Teil durchaus banalen und widersprüchlichen Antworten in Why Are We Creative? äußerst unbefriedigend sein. Dagegen mag ein anderer in dem Film eine wahre Wundertüte, prall gefüllt mit nicht selten sehr anregenden Gedanken, erblicken. Ist diese Ambiguität nicht zutiefst kreativ?