USA 2014 · 107 min. · FSK: ab 12 Regie: Damien Chazelle Drehbuch: Damien Chazelle Musik: Justin Hurwitz Kamera: Sharone Meir Darsteller: Miles Teller, J.K. Simmons, Melissa Benoist, Paul Reiser, Austin Stowell u.a. |
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Kaum zu ertragenden Grenzbereiche |
»Wir sind immer bessere Menschen, wenn wir eben Musik gehört haben, nicht aber immer bessere, wenn wir eben welche machten.«
Karl Ferdinand Gutzkow (1811-1878)
Whiplash, dieser beunruhigende, verstörende und faszinierende Film, hätte es noch vor zehn Jahren wohl kaum in die Kinos geschafft. Damals wäre das von Regisseur und Drehbuchautor Damian Chazelle verfasste Drehbuch wohl endgültig auf der schwarzen Liste der besten, niemals produzierten Drehbücher verstaubt – Jazz, Kammerspiel, Mora und Bildung sind einfach zu viel des Guten. Aber Digitalität bedeutet nicht zuletzt billige Produktionskosten, so dass sich ein kleines Produzenten-Team 2012 dazu entschloss, wenigstens 15 der 85 Seiten von Chazelles Drehbuch von ihm verfilmen zu lassen. Der 18-minütige Kurzfilm erhielt auf dem Sundance Film Festival 2013 nicht nur überragendes Feedback, sondern begeisterte auch die Investoren. Nach kurzer Zeit waren 3,3 Millionen Dollar gesammelt – das notwendige Minimalbudget, um das Kurzfilmkonzept in einen Spielfilm zu überführen. Nur ein Jahr später kehrte Whiplash, diesmal 106 Minuten lang, nach Sundance zurück – und gewann nicht nur den Publikumspreis, sondern auch den Großen Preis der Jury. Seitdem hat Whiplash zahlreiche andere Preis gewonnen, wurde für fünf Oscars nominiert (von denen er drei gewann) und hat weltweit mehr als 7,5 Millionen Dollar eingespielt (Stand 02/15).
Dieser Erfolg ist auf den ersten Blick erstaunlich. Denn Whiplash ist alles andere als massenkonforme, leichte Kost. Unter Einbeziehung eigener Erfahrungen in einer ambitionierten Jazz-Band erzählt Chazelle die Geschichte von Andrew (Miles Teller), einem 19-jährigen Schlagzeuger, der es auf eines der besten Jazz-Konservatorien der USA geschafft hat. Überraschend gelingt ihm schon im ersten Jahr der Sprung in die Schul-Jazzband, er zahlt dafür aber einen hohen Preis. Denn die pädagogischen Methoden des Bandleaders und Lehrers am Konservatorium, Terence Fletcher (J.K. Simmons) sind extrem. Um seine Schüler in den Grenzbereich ihrer Fähigkeiten zu führen, schreckt Fletcher weder vor psychischer noch physischer Gewalt zurück.
Was anfangs wie eine moralisch eindeutige Sache aussieht, entpuppt sich jedoch schon bald als äußerst ambivalente Gratwanderung. Denn schließlich ist es nicht einfach nur Sadismus, der Fletcher antreibt, sondern seine Liebe zur perfekten Musik, seine Sehnsucht nach der absolut präzisen Umsetzung von Jazz-Klassikern wie Hank Levys 'Whiplash'. Da er zudem noch mit einem haarsträubenden Beispielskatalog von Gewaltanwendungen aus der Jazz-Geschichte arbeitet, scheint Fletchers Ansatz auch historisch gerechtfertigt – und schließlich führt der pädagogische Schlaghammer bei seinen Studenten zu signifikant besseren Resultaten, auch bei Andrew.
Die gespenstische Folgerichtigkeit von Fletchers Handeln und die naive, ehrgeizige und ängstliche Ergebenheit seiner Schüler bilden einen faszinierenden Kontrast, der durch die schauspielerische Wucht von Simmons und Teller noch einmal erhärtet wird. Mit den atemberaubenden Schnitten von Tom Cross (Any day now), die immer wieder im Gleichklang mit Andrews Spiel am Schlagzeug erfolgen, nimmt Whiplash schnell sowohl musikalisch als auch emotional an Tempo auf. Sowohl für die Schüler als auch den Zuschauer führt das in Grenzbereiche, die in ihrer Ambivalenz – gute Musik gleich große Qual, brich einen Menschen, um sein Genie zu freizulegen – nur schwer zu ertragen sind und zudem einen mehr als ernüchternden Blick auf die Jazz-Szene geben. Dass dabei die etwas erratisch eingeflochtene Liebesgeschichte und die an sich interessante Vater-Sohn-Thematik ein wenig zu kurz kommen, wird durch das schon erwähnte zunehmend betonte moralische Paradox mehr als ausgeglichen.
Es braucht Tage, sich von diesen Widersprüchen zu befreien, denn Whiplash ist ein Film, der sich auch deshalb tief ins Unbewusste gräbt und so erfolgreich ist, weil die hier gestellten moralischen Fragen nicht nur im Bildungssystem und im Sport, sondern inzwischen in fast jedem Bereich unseres Lebensalltags, auch der Freizeit, präsent sind: wie lernt, wie wandert, wie liebt, wie altert man? Bernhard Buebs 2006 geäußerte provokative Forderung nach mehr Disziplin war in Deutschland so etwas wie der Anfang dieses Diskurses. Inzwischen bleibt der kapitalistische Impetus, dass nur das Beste gut genug ist, auch in Deutschland immer öfter unwidersprochen. Selbst an sich kritische, populärkulturelle Formate, die auf anderen Ebenen bereit zu Brüchen mit der herrschenden Moral sind, passen an dieser Stelle – so wie etwa die Musical-Comedy-Serie GLEE, die in ihrer vierten Staffel zwei ihrer Hauptcharaktere in ein ähnliches Elite-Konservatorium schickt, wie es in Whiplash skizziert wird.
Letztlich hilft nur ein forcierter Blick zurück auf die Kriegsschauplätze der 1968er-Generation, die gerade in der Abkehr vom klassischen Genie-Begriff und seiner Opferbereitschaft ein Konzentrat an innovativer Musik entwickelte, das bis heute nachwirkt. Und die auch filmisch nach Befreiungsansätzen suchte, die in ihrer Radikalität heutzutage wie von einem anderen Stern scheinen. Man denke nur an Lindsay Andersons If... (1968), in dem anders als in Whiplash, die Befreiung von den immanenten autoritären Strukturen im Bildungssystem nicht über Akkulturation, sondern extremen Widerstand erfolgte.
In Sundance wurde er gefeiert und die US-amerikanischen Rezensenten sind ganz begeistert von ihm: Der Musikfilm Whiplash von Chazelle. Verständlich, denn dies ist ein herrlicher Musikfilm, über modernen Jazz und seine Schönheit. Dies ist zugleich auch ein Film über menschliche Abgründe, über Menschen, die andere an ihre eigenen Abgründe treiben, ein Film über Ausbildung und Erziehung, auch deren schmerzhafte Seite.
»Whiplash« – das ist ein Schlag mit der Reitgerte. Und dieser Titel ist doppelsinnig gemeint, mindestens. Denn »Whiplash« ist der Titel einer Komposition des US-amerikanischen Jazzmusikers Hank Levy. Ein Whiplash, das ist zugleich auch eine bestimmte Übung mit dem Schlagzeug. Und die Reitgerte ist bekanntlich auch ein Symbol für Sadismus, für jemanden, der einen anderen gern quält, und selber nicht mehr genau weiß, ob er es zu dessen oder zu seinem eigenen Besten tut.
Alles beginnt als typisch amerikanische Success-Story: Ein junger Mann, der 19-jährige Andrew steht im Zentrum. Er ist musikalisch hochbegabt, träumt von einer Karriere als Schlagzeuger und ist frisch verliebt, als er auf das renommierte Shaffer-Elite-Konservatorium aufgenommen wird. Man lernt im Folgenden sehr viel über Jazz, über Schlagzeugtechniken, und der Soundtrack zu dem Film ist wunderschön. Whiplash ist nach dem Jazz-Musical »Guy and Madeline on a Park Bench« von 2009 der zweite Spielfilm des 1985 geborene Regisseur und Drehbuchautor Damien Chazelle. Und Chazelle gelingt ein sehr unterhaltsamer, zugleich gut inszenierter und intelligenter Film, der Erinnerungen an die Musicals »A Chorus Line« und »Hair« ebenso wachruft, wie an den »Club der toten Dichter«.
Auf dem Konservatorium begegnet Andrew Terence Fletcher, einem berühmten Lehrer und Bandleader. Fletcher scheint charismatisch und charmant, er umwirbt Andrew, dass er in seine Band kommen soll, und scheint zuerst ganz nett zu sein. Er gibt sich als Anwalt entspannter Heiterkeit. Berühmt ist Fletcher allerdings auch für seine rabiaten Lehrmethoden. Und bald schon, als Andrew einmal seiner Ansicht nach nicht das richtige Tempo findet, zeigt er auch Andrew seine andere Seite. Er verpasst ihm mehrere Ohrfeigen und beschimpft ihn aufs Vulgärste: »Wenn du absichtlich meine Band sabotierst, fick ich dich wie ein Schwein. Ach du großer Gott. Bist du eine von diesen Tränenmemmen? Du bist ein schwuchtellippiges Stück Scheiße, dass jetzt mein Drumset vollheult und vollrotzt wie 'ne neunjährige Göre.«
Muss das eigentlich sein? Muss man erniedrigt, gedemütigt und beschimpft werden, um Spitzenleistungen zu erbringen, geht Größe nur über Blut und Tränen, macht einen besser, was einen hart macht? Der Film würde all diese Fragen zwar nicht vorbehaltlos bejahen, ein bisschen aber schon. Und am Ende erweisen sich alle bösen Methoden als richtig: Man muss sich schon die Finger blutig trommeln, wenn man es zu etwas bringen will – auch bei der Initiation der Jungs muss Blut fließen, so wird sie zu einer Art perverser Entjungferung.
Die US-amerikanische Gesellschaft findet derartige Tigermamis und Tigerpapas aber eh super – das zeigen die Rezensionen auch linksliberaler Filmkritiker:
»Whiplash is about jazz in almost exactly the same way that Black Swan is about ballet«, schreibt etwa Andrew O’Hehir, »Andrew literally sheds blood, sweat
and tears in his pursuit of greatness«.
Oder Brian Tallerico: »Fletcher likes to tell the apocryphal story of how Jo Jones threw a cymbal at Charlie Parker’s head one night when he messed up, thereby pushing him to the breaking point at which he became Bird. Without that cymbal, would music history be the same? Would Charlie Parker have gone home, refined, practiced and driven himself without the threat of not just failure but physical violence? Fletcher uses that kind of barbarous technique on his students: throwing furniture, calling Andrew names, playing mind games and physically torturing him with repetitive drum solos until he bleeds on the kit. ... He’s not 100% wrong when he says that the most dangerous two words in the English language are ›good job‹.«
Dieser Film enthüllt in solchen Reaktionen eine Menge davon, was gerade falsch läuft in Amerika.
Insofern ist dies keineswegs nur ein Film über Musik. Es ist ein Film über die geistige Situation der Gegenwart.
Whiplash erzählt tatsächlich eine Geschichte von den Vorteilen der Anstrengung, des Überwindens der eigenen Grenzen. Dies ist ein Film, der ein paar Selbstverständlichkeiten, auf die sich heute sehr viele, sehr schnell einigen können, in Frage stellt: Zum Beispiel die, dass Kunst immer nur Spaß macht, nur eine lustvolle, erfüllende Tätigkeit ist, dass einem Begabten, alles von selber zufliegt, dass man »nur wollen« muss, dann wird man
irgendwann auch Erfolg haben. Schön wär’s.
Oder dass das Private wichtiger ist als Arbeit, Liebe wichtiger als Selbsterfüllung, das Bequemlichkeit wichtiger ist als der Lohn, der aus vollbrachter Anstrengung erwächst, dass Glück in Entspannung besteht, nicht in Leistung, im Erreichen schwieriger Ziele. Dass Whiplash das alles tut, muss man loben.
Zugleich ist dieser Film aber eben auch umgekehrt ein sehr zeitgeistiges Kino-Produkt, das sehr sehr gut passt zu unserer Gegenwart, die auf allen Ebenen der Gesellschaft, ihrer Arbeitswelt und Kultur ständige Verbesserung und Selbstoptimierung fordert, der Effizienzsteigerung und Rationalisierung zum neuesten quasi-religiös verehrten und unhinterfragten Dogma geworden sind.
Einem europäischen Zuschauer wird dieser Film sehr amerikanisch vorkommen in seiner Feier von Härte und Egoismus, vom Charisma des Älteren und in seiner Geschichte eines Jungen, der unter einem satten auch sehr amerikanischen Vaterkomplex leidet – weil sein Papa nämlich Musiker war, es aber nicht geschafft hat, also ein Loser ist, was das Buberl natürlich narzisstisch kränkt –, und später dann zwischen mehreren Väterfiguren schwankt.
Aber dies ist ein Thema, das auch uns berührt. Unter die Haut gehend und grandios gespielt fragt Whiplash danach, wie weit ein Lehrer gehen darf, welchen Preis Höchstleistungen wert sind. Ist Fletcher vielleicht einfach ein banaler Sadist und Whiplash die Männerbund-Version von Fifty Shades of Grey?