Italien/F/USA 2018 · 123 min. · FSK: ab 12 Regie: Roberto Minervini Drehbuch: Roberto Minervini Kamera: Diego Romero Schnitt: Marie-Hélène Dozo |
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2017, in den leergefegten Straßen von New Orleans | ||
(Foto: Grandfilm) |
»Die Geschichte ist nicht das Vergangene, sie ist die Gegenwart«. Der Satz von James Baldwin ist im Jahr 2020 wieder aktueller denn je. Die Geschichte der Schwarzen in Amerika ist ein Kreisverkehr, an dessen Bordsteinkante immer mehr Kreuze auftauchen: Trayvon Martin, Ernest Satterwhite, John Crawford III, Eric Garner, Michael Brown, Tamir Rice, Rumain Brisbon, Naeschylus Vinzant, Anthony Hill, Walter Scott, Freddie Gray, Samuel DuBose, Alton Sterling, Philando Castile, um nur ein paar Namen jener Toten zu nennen, die seit 2012 dazugekommen sind. In diesem Jahr ist es George Floyd, sein Tod ging samt der Chiffre »Acht Minuten und 46 Sekunden« ins kollektive Gedächtnis ein. Sie alle sind Opfer von systemischem Rassismus, alle wurden getötet von amerikanischen Polizisten.
Was also tun, wenn die Welt brennt? Viele wichtige und großartige Filme aus den letzten Jahren packen den US-Rassismus und dessen teils nostalgisch verklärte Geschichte am Nacken und zerren ihn ins Licht. Spielfilme wie Steve McQueens schonungsloses Sklavendrama 12 Years a Slave oder Ava DuVernays Martin Luther King-Biopic Selma, Dokumentarfilme wie Raoul Pecks grandioser Essay I Am Not Your Negro oder DuVernays erschreckend brillant argumentierter Unterdrückungsdiskurs Der 13. Und auch Serien wie DuVernays audiovisuelle Frontalbeschallung »When They See Us«.
Aber wir scheinen uns im Kreis zu drehen, das Vergangene ist die Gegenwart. »Wir machen schwere Zeiten durch, seitdem meine Mama klein war. Sie ist 87« ist eine jener Aussagen der Barbesitzerin Judy aus What You Gonna Do When the World’s on Fire?, die auf den Punkt treffen. Roberto Minervinis Dokumentarfilm, den der deutsche Verleih Grandfilm aus gegebenem Anlass vorterminiert hat, ist der Film der Stunde. In bestechendem Schwarz-Weiß von Diego Romero Suarez-Llanos gefilmt, porträtiert der italienische Regisseur mit amerikanischer Ausbildung Menschen aus der Black Community.
Eigentlich war Minervini im Jahr 2015 nach Louisiana gekommen, um eine Dokumentation über die Musik der 1930er Jahre zu drehen. Doch die prekäre sozioökonomische Schneise, die der Hurrikan Katrina im Jahr 2005 gerissen hat, und die Gewalt gegen Schwarze brachten ihn vom ursprünglichen Plan ab. Am 5. Juli 2016 wird der Straßenhändler Alton Sterling in Baton Rouge nach einer Auseinandersetzung mit zwei weißen Polizisten von einem der Beamten mit mehreren Schüssen getötet. Und auch im 21. Jahrhundert ist der Ku-Klux-Klan in dem südlichen US-Bundesstaat aktiv.
Für zwei Lynchmorde in Jackson, Mississippi, macht die New Black Panther Party for Self-Defense den Klan verantwortlich. Minervini durfte den sonst kamerascheuen Aktivisten für seinen Film folgen: bei eigenen Ermittlungen zu den Lynchmorden an Jeremy Jackson und Phillip Carroll, beim Marsch durch die Straßen von Baton Rouge aus Protest gegen den Polizistenmord an Sterling und bei der Rekrutierung neuer Mitglieder, wo auch Forderungen wie etwa Reparationszahlungen für den »African Holocaust« anklingen. Politischer Aktivismus hautnah, angeführt von der Vorsitzenden Krystal Muhammad. »Black Power!« oder »No justice, no peace« skandieren sie immer wieder.
Die Ereignisse um die Black Panther bilden einen Part des dokumentarfilmischen Triptychons. Ein weiterer erzählt aus dem Leben besagter Judy Hill. Sie ist so etwas wie die Seele des Films, diese unglaublich präsente Frau, die mit sonorer Stimme gegen die Ungerechtigkeiten anredet, ja teils predigt. Sie selbst hat eine Drogenvergangenheit hinter sich und kämpft um ihre vor dem Aus stehende Kneipe und um die Wohnung der Mutter. Beides droht, wie überhaupt die traditionelle schwarze Nachbarschaft im historischen Tremé-Viertel von New Orleans, von der Gentrifizierung gefressen zu werden.
Schließlich sind da noch der 14-jährige Ronaldo und sein neunjähriger Bruder Titus, mit denen wir durch die Straßen streunen. »Spätestens, wenn die Straßenlaternen angehen, seid ihr zuhause«, ermahnt die Mutter. Und erzählt weiter, sicher nicht zum ersten Mal, dass letzte Woche um die Ecke fünf Menschen erschossen wurden und es in der Woche davor eine Schießerei an der Tankstelle gab. Eine Herkulesaufgabe, Kinder in diesem Umfeld auf Spur zu halten und zu beschützen. Den Vater kennen die Brüder nur aus den Gefängnisbesuchen. In einem erschlagenden Moment erklärt Ronaldo seinem kleinen Bruder, was der Begriff »race« bedeutet, der im englischsprachigen Raum losgelöst von biologischen Diskursen eine soziokulturelle Identität meint: »Du kannst einen hellen Hautton haben, aber trotzdem schwarz sein«.
Minervinis Blick ist einfühlsam und zugleich distanziert. Er bleibt neutral und versagt sich jegliche Kommentare. Die Bilder sind betörend schön, dabei allerdings nicht selbstverliebt, wie einige internationale Kritiken behaupten. Vielmehr verleiht diese sehr filmische Ästhetik dem Werk Nachdruck als mehrstimmige Erzählung, die von Einzelschicksalen auf das große Ganze schließen lässt: auf systemimmanenten Rassismus und soziale Ungerechtigkeit. Am Rande, in kleinen Bemerkungen, läuft die große Geschichte der Unterdrückung mit: von der Sklaverei über die Jim Crow-Ära, die Afroamerikaner zu Menschen zweiter Klasse machte, über den »War on Drugs« und die Null-Toleranz-Strategie des amerikanischen Sicherheitsapparates, der für explosionsartig ansteigende Inhaftierungszahlen von vor allem auch Schwarzen sorgte.
What You Gonna Do When the World’s on Fire? ist ein wichtiger Film. Die Frage aus dem Titel beantwortet er eindrücklich. Was machen, wenn die Welt brennt? Eben diese Geschichten erzählen und das Kino als gesellschaftspolitisches Instrument nutzen. Und sich damit dafür einsetzen, dass ein Donald Trump, dieser infantile, rechtsnationale Troll, einer der gefährlichsten unter den Brandstiftern dieser Welt, nicht wiedergewählt wird.
Schon vor »Black Lives Matter« drehte der Italiener Roberto Minervini diesen Beobachtungsfilm über Schwarze im US-Süden: Kinder, Alleinstehende, Aktivisten. Trotzdem werfen die gegenwärtigen Proteste gegen Rassismus einen Schatten auf diesen Film und verleihen ihm Aktualität.
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Furcht und Angst stecke in der DNA der schwarzen Amerikaner, heißt es in
diesem Film. In jedem Fall ist die Furcht vor Hassverbrechen und Polizeigewalt der gemeinsame Nenner im Dasein jener Gruppe schwarzer Einwohner von New Orleans, die der italienische, aber seit Jahren in den USA lebende Regisseur Roberto Minervini in seinem Dokumentarfilm porträtiert. Dieser Film führt eindringlich vor Augen, wie es ist, sich im eigenen Land fremd zu fühlen. In der Polizei nicht Freund und Helfer sehen zu können, sondern Feind und Helfer der Rassisten, oder schlimmer: Folterknecht und Lynch-Mörder. Was es bedeutet, schwarz zu sein.
Die jetzt weltumfassend gewordene Bewegung »Black Lives Matter« hat ihre Ursachen nämlich nicht in einigen Einzelfällen, sondern in der jahrhundertealten Erfahrung einer systematischen Unterdrückung. Wir Europäer wissen das zwar alle im Prinzip, können aber eine Erinnerung gut gebrauchen.
Der sehr besondere Dokumentarfilm What You Gonna Do When the World’s on Fire? (»Was tust du, wenn die Welt brennt?«) ist eine intensive, aufmerksame filmische Meditation, die das prekäre Leben einer Reihe schwarzer Männer und Frauen im amerikanischen Süden, in Lousianas Hauptstadt New Orleans in den Blick nimmt.
Anhand von vier unabhängigen Handlungssträngen untersucht Roberto Minervinis Film die Auswirkungen des uralten Rassismus.
Eine der hier Portraitierten ist Judy: Sie ist 50, eine Bar-Besitzerin mit Drogenvergangenheit. Sie kann sich gut artikulieren, ihre Wut präzise in Worte und Gefühle fassen. Sie hat klar überlegte Meinungen zu Fragen der Diskriminierung und der Ungerechtigkeit. Judy ist auch sehr kamerabewusst – was nicht immer nur ein Vorteil ist.
Das krasse Gegenteil von ihr sind die beiden Brüder Ronaldo und Titus. Sie sind vierzehn und neun, und ihre alleinerziehende Mutter kümmert sich sehr rührend, aber auch sehr behütend um sie. Ganz beiläufig erfahren wir über diese überprotektive Art eine Menge über das Alltagsleben schwarzer Amerikaner: Nicht nur die üblichen Gefahren durch Fremde, rasende Autos, Drogen und Kriminalität, sondern eben auch durch Polizeibrutalität sind hier ständiger Begleiter: Wer hat Angst vom
uniformierten Mann? Und wenn er kommt, dann laufen sie davon.
Die Passagen mit Ronaldo und Titus sind die stärksten Sequenzen des Films: Sie erzählen nicht allein von zwei Heranwachsenden und der schamlosen Feindschaft, mit der ihnen ein Teil der Weißen gegenübertritt. Sondern auch von der Zukunft von Generationen schwarzer Kinder. Dass sie verloren ist, ahnt man schon am Horizont.
Dann gibt es auch Häuptling Kevin und die Mardi-Gras-Indianer von New Orleans – dies ist der
am wenigsten überzeugende Erzählstrang, denn die Parallelen zwischen der Unterdrückung der Schwarzen und der Ureinwohner sind allzu allgemein und bemüht.
Die vierte Geschichte ist die offen politischste. Sie zeigt Proteste: gegen die Polizei und ihre Übergriffe gegen Nicht-Weiße Bürger. Der Film folgt hier den Demonstranten der »New Black Panther Party for Self Defense«.
Nachdem im Juli 2016 der Schwarze Alton Sterling in Baton Rouge von weißen Polizisten erschossen worden ist, liegt rund ein Jahr später in Jackson County, Mississippi, ein abgetrennter Kopf auf einer Veranda. Ein Verbrechen des Ku-Klux-Klan, soviel scheint klar, doch die Polizei gibt sich mit der üblichen Erzählung – Gang-Gewalt – zufrieden.
Wer die wahren Ereignisse, die der Spielfilm Mississippi Burning einst schilderte, noch erinnert, muss sich hier eingestehen: Nichts hat sich geändert. Rassistische Gewalttaten sind in diesen Bundesstaaten an der Tagesordnung.
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What You Gonna Do When the World’s on Fire? ist trotz dieses erschütternden Hintergrunds rein für sich ein wunderbarer Film: Mit Bildern, die eine ganz eigentümliche Poesie entfalten, obwohl sie sehr realistisch sind und in mancher Hinsicht an klassische moderne Fotografie erinnern, etwa jene aus den »New Deal Zeiten« der 30er Jahre. Zugleich geht das, was sie zeigen, immer über bloßen Realismus hinaus. Es wird ikonisch.
Genau das hat der eine oder andere Kritiker dem Film auch vorgeworfen: Sie sprechen von »Fotobuch-Ästhetik«, als sei Schönheit ein Einwand gegen Qualität. In der Tat sind diese herrlichen Aufnahmen mit überwältigenden Kontrasten und dem Einsatz von Licht, die von Kameramann Diego Romero Suarez-Llanos realisiert wurden, so unglaublich schön, besonders und einfach gut, dass sie die eine der Stärken des zweistündigen Dokumentarfilms ausmachen.
Darf man arme und verfolgte Menschen nicht so fotografieren, wie Stars? Muss man von bösen Dingen auch auf hässliche Weise erzählen?
Diese Frage, darum stellen wir sie hier, geht über den Einzelfall hinaus. Sie rührt an ein Prinzip der Kino-Ästhetik. Minervini gibt unmissverständliche Antworten: Er erzählt ruhig, beobachtend, in klarer Monochromie – an Jazz-Musik und die Werke des Film noir kann man hier denken.
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Diese Machart überzeugt, aber sie überrascht auch, wenn man sich an Minervinis bisherige Filme erinnert: Mit Stop the Pounding Heart gewann er 2013 bei Dok.Leipzig, Low Tide lief 2012 in Venedig, The Other Side 2015 in Cannes. Alle drei waren Farbfilme, die einem eher erhitzt und allzu sozialrealistisch vorkamen, geprägt von
unstilisierter »Schmuddelästhetik« aus Blut, Schweiß, Dreck unter den Fingernägeln. Man hat große Lust, sie nun im Lichte seines neuen Films noch einmal zu sehen, und müsste das eigentlich auch. Vermutlich wäre der Eindruck ein anderer, besserer. In diesen früheren Filmen portraitierte Minervini die andere Seite: Die Rassisten. Waffennarren. White Trash. Die mit der Konföderiertenflagge, die nach drei Bourbon von »White Supremacy« faseln, in Trailerparks oder billigen
Holzhäusern hausen, denen es genauso dreckig geht, wie den Schwarzen. Aber sie sind hässlicher, ihre Musik schlechter, darum bleibt ihnen nur der nackte Hass und die Tränen des Selbstmitleids nach dem sechsten Glas.
Bei uns würden sie AFD wählen, auf Pegida-Demos grölen, Stiefel und Glatze tragen, dort tragen sie Bruce-Springsteen-T-Shirts und zottelige Haare, wählen Trump und ballern mit Bärentöter-Patronen auf Schießscheiben, die den Silhouetten von Afroamerikanern
nachempfunden sind.
Diesen Hintergrund zu kennen ist nicht nur wichtig, um die filmische Politik, das politische Filmemachen Minervinis zu verstehen, seinen gewissermaßen überparteiischen, neutralen Zugang, der mit den Erniedrigten und Beleidigten jeder Hautfarbe sympathisiert, ihnen nahekommt und erstaunlich intime Momente abgewinnt. Es macht auch klar, dass sich dieser Filmemacher künstlerisch weiterentwickelt: Hin zu einer Stilisierung der Bilder, weg von dem Glauben, dass man etwas »einfach zeigen« könnte, hin zu der Gewissheit, dass Kino gestalten muss. Wie Minervini diesen erhöhten Anspruch erfüllt, ist bewundernswert.
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Mit seiner Methode kühlt der Regisseur die Erfahrung der Zuschauer auch herunter, betrachtet nüchtern, ungeschminkt, aber eben auch nicht agitatorisch. Sein Film dokumentiert, er ist kein Pamphlet, das uns zu Revolutionären machen will. Dies ist also keineswegs ein »Themenfilm«. Obwohl er natürlich ein Thema hat. Und ist.