USA 2010 · 100 min. · FSK: ab 12 Regie: Debra Granik Drehbuch: Debra Granik, Anne Rosellini Kamera: Michael McDonough Darsteller: Jennifer Lawrence, John Hawkes, Kevin Breznahan, Dale Dickey, Garret Dillahunt u.a. |
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Mit fast naiv wirkender, Verzweiflung entspringender Unbeirrbarkeit... |
Kontrastprogramm zum sommerlichen Wetter: eine dunkle Reise in die kalten Wälder von Missouri. Der Titel Winter’s Bone verheißt schon nichts Gutes, der Trailer setzt auf Mystery und Spannung – man weiß, worauf man sich einlässt...
Debra Granik, die Regisseurin, hat in diesem vielfach prämierten Werk (u. a. vier Oscarnominierungen) den gleichnamigen Roman von Daniel Woodrell verfilmt, einem Mann, der sich dort auskennt, wo die Handlung spielt: in den Ozark-Bergen, im Süden des US-Bundesstaates Missouri. Die Kamera folgt der 17jährigen Ree Dolly (Jennifer Lawrence) auf Schritt und Tritt, wenn sie auf der Suche nach ihrem Vater durch die hügeligen Wälder stapft und immer wieder vor einem neuen heruntergekommenen Haus steht, wo ihr dann eine Frau den Zutritt verwehrt. Ree hat zwei kleinere Geschwister, eine kranke Mutter und keinerlei Einkommen, um das tägliche Überleben zu gewährleisten. Da der Vater, Jessup Dolly, im Gefängnis ist, lastet alle Verantwortung auf ihr. Von den Nachbarn gibt es ab und an Essensrationen geschenkt, das hungrige Pferd wird versorgt und Ree schießt Eichhörnchen und zeigt ihrem Bruder, wie man Fell und Haut abzieht. Vom Polizisten erfährt sie dann allerdings, dass ihr Vater auf Kaution freigekommen und seitdem spurlos verschwunden ist. Haus und Grundstück sollen gepfändet werden, wenn Jessup nicht wieder auftaucht. Also macht sich Ree auf die Suche nach ihm.
Schnell spürt der Zuschauer, dass auf dem Verschwinden des Vaters ein düsteres Geheimnis lastet. Am Anfang noch aufgrund der familiären Beziehungen (jeder scheint in dieser Gegend irgendwie miteinander verwandt zu sein) einigermaßen freundlich, doch nach und nach immer feindseliger, wird die junge Frau immer wieder von älteren Frauen abgewiesen und ermahnt, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Überhaupt sind es in diesem Film vor allem die Frauen, die handeln und reden und alles regeln. Allen voran die anrührende „Heldin“. Die Männer im Hintergrund versorgen ihre Familien durch die Herstellung von und dem Handel mit Crystal-Meth, einer synthetischen Droge, welche seit Jahren die USA überschwemmt. In einer clanartigen Gemeinschaft hat sich ein kriminelles System tief mit den Strukturen der Familien verstrickt, welches an die Mafia denken lässt. Die Polizei wagt sich da nur stichprobenartig hinein. Wer gegen die Regeln verstößt, verliert fast buchstäblich den Boden unter seinen Füßen. Jeder scheint etwas über das Verschwinden zu wissen, aber niemand will oder darf weiterhelfen. Gewalt scheint hinter den Worten und Blicken auf, Drohungen wechseln sich mit Ablenkungsmanövern ab. Doch Ree lässt sich nicht beirren, und wagt sich immer weiter vor in das Zentrum der Gefahr. Jennifer Lawrence spielt dies mit einer faszinierenden Mischung aus trotzigem Selbst- und Familienbewusstsein („Ich bin eine Dolly.“) und einer traurigen Ausweglosigkeit, die sich in den müden Schritten und in der brüchigen Stimme zeigt. Es ist nicht Waghalsigkeit, die sie weitertreibt, sondern eine fast naiv wirkende Unbeirrbarkeit, die der Verzweiflung entspringt, dem Gefühl, dass dies niemand sonst für sie erledigen wird, mit dem Rücken zur Wand, ohne einen Plan B.
So liegt auf den Bildern eine bleierne Spannung, dezent aber wirkungsvoll musikalisch untermalt (Musik: Dickon Hinchliffe) und geradlinig wie ein Western, spannend wie ein Thriller erzählt. Obwohl aber die Handlung ohne große Überraschungen und Wendungen düster und gnadenlos voranschreitet und die Kamera dabei immer dicht an der Hauptperson orientiert ist, ist um dieses Zentrum herum ein feines Netz aus differenzierten Bezügen und Handlungsweisen gesponnen, das dem Film eine große Tiefe und Glaubwürdigkeit verleiht. Fast alle Personen zeigen ambivalente Verhaltensweisen, oszillieren zwischen Grausamkeit und Menschlichkeit. Rees Onkel Teardrop (großartig abgründig und traurig-ausgezehrt: John Hawkes) ist zunächst ein drogensüchtiger, brutaler Krimineller, der sie kalt abblitzen lässt, bevor er sich in ihren loyalsten Helfer verwandelt und die eisenharte Merab (Dale Dickey), die wie ein bissiger Kettenhund ihren Ehemann und Clanchef Thump bewacht, wird sich am Ende zu einem Akt der Gnade herbeilassen. Auch das Milieu zeigt zwei Seiten: Hässlichen White trash-Bildern von prolligen Tankstellensäufern, dumpfen Countrybars und abgewrackten Bruchbuden stehen Szenen einer heilen Ländlichkeit gegenüber, wo in Wohnzimmern Countrymusik gesungen wird und die Nachbarn sich gegenseitig unterstützen und weiterhelfen. Ein Banjo wird auch zum Schlüsselsymbol für den verlorenen Vater: Teardrop nimmt sich das verwaiste Instrument und spielt ein paar Takte, erwartungsvoll umlagert von den drei Geschwistern, schüchtern, in seiner neuen Rolle noch unsicher.
Interessiert am Ende dieses intensiven und nachwirkenden Kinoerlebnisses noch die Frage nach dem Genre? Der Film beinhaltet die unterschiedlichsten Elemente und Effekte, die von einer Sozialdoku bis zum Country-Thriller reichen und mit einer präzisen und bildgewaltigen Milieuschilderung überzeugen, was an Ben Afflecks genialen Regieerstling Gone Baby Gone der in Boston spielt, erinnert. Interessant hört sich auch die Genre-Bezeichnung „country noir“ an, die vom Buchautor Daniel Woodrell stammt. Aber egal.