USA/CDN/EST 2024 · 161 min. · FSK: ab 6 Regie: Jon M. Chu Drehbuch: Winnie Holzman Kamera: Alice Brooks Darsteller: Cynthia Erivo, Ariana Grande, Jeff Goldblum, Michelle Yeoh, Jonathan Bailey u.a. |
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Zwei Seiten der gleichen Medaille? | ||
(Foto: Universal) |
»Wahrer Mut besteht darin, sich der Gefahr zu stellen, wenn man Angst hat. – Lyman Frank Baum, „Der Zauberer von Oz“, 1900«
Am Anfang war Der Zauberer von Oz aus dem Jahr 1939, einer der größten Erfolge Hollywoods und des Musical-Familienfilms, der nicht nur in Amerika und dem Commonwealth Generationen beeinflusste, sondern auch in Europa und inzwischen ein Weltdokumentenerbe der UNESCO ist. Die Handlung dieser Verfilmung des Kinderbuches von Lyman Frank Baum ist dabei genauso ikonisch wie die Lieder, die wie Over the Rainbow über den Film hinaus zu fast allem transformiert wurden, was später kommen sollte.
Auch der Film schrie natürlich irgendwann nach einer Transformation und die kam dann auch. Im Jahr 2003 wurde ganz nach Zeitgeschmack ein Musical-Prequel am Broadway realisiert, mit der Musik von Stephen Schwartz, und auch Texten von ihm, die die Vorgeschichte von Oz erzählen, die Geschichte der beiden konkurrierenden Hexen Elphaba, der bösen Hexe des Westens und Galinda/Glinda, der guten Hexe des Nordens. Und damit natürlich auch eine inhaltlich-moralische Anpassung an den Zeitgeschmack möglich war.
Die übernimmt und verstärkt nun auch die Verfilmung des Musicals durch den Musical-erfahrenen Jon M. Chu (In the Heights, 2021). In 160 Minuten dieses ersten Teils (der zweite erscheint in genau einem Jahr) sehen wir also den Hexen Elphaba, der bösen Hexe des Westens (Cynthia Erivo), und Galinda, der guten Hexe des Nordens (Ariana Grande-Butera), bei ihrem Coming-of-Age zu. Dabei wird schnell klar, dass Gut und Böse keine feste Anlage sind, sondern die Gesellschaft einen zu dem einen oder anderen macht und überhaupt die Frage gestellt werden muss, was eigentlich gut und was böse ist.
Um das alles zu verstehen, gibt es zum einen die Musik, die gesungenen Lieder, die dann und wann auch mit Tanzeinlagen gepaart werden, doch anders als der große Klassiker gibt es kein Lied, das unsere Zeit überdauern und zu Volksgut und einem Remake-Klassiker wie Over the Rainbow werden dürfte. Es ist vielmehr die Inszenierung, die heraussticht, und die sich eher an nervösen
Tiktok-Formaten unserer Gegenwart orientiert, als an der klassisch-elegischen Musical-Form oder an postmodern gebrochenen, aber dennoch romantischen Neu-Auflagen wie La La Land oder Mamma Mia!
Stattdessen wird – tiktok-konform – gesteigert, bis es kaum mehr geht, und da die
Handlung in einem Internat für die besser gestellten und verzogenen Jugendlichen von Oz stattfindet, gibt es natürlich Anleihen an die Welt Harry Potters. Doch auch bezüglich Harry Potter ist natürlich Zeit ins Land gegangen, weshalb die Schulszenen, die Kostüme und die Räume ebenfalls ein konsequentes Uplifting erhalten haben und dementsprechend die Barbisierung unserer Welt durch Greta Gerwigs
Barbie auch sichtbare Spuren in Wicked hinterlassen hat.
Das ist von allem etwas viel, mehr noch, als ja auch politisch der Zeitgeist einbezogen werden will, der – wie sollte es angesichts von Trump & Co. auch sein – in Form eines autokratischen Angriffs auf die paradiesischen Zustände in Oz erfolgt. Also wird das, was ja schon im Kleinen über Elphaba und Galinda und den typischen Alltagsrassismus erzählt wird, auch noch einmal auf der gesellschaftlichen Meta-Ebene wiederholt.
Das ist selten überraschend. Überraschend ist vielmehr, dass trotz dieses Konvoluts an wokem Inhalt überhaupt berührende Momente entstehen. Das passiert vor allem dann, als der Film einer weiteren zeitgenössischen Vorlage Tribut zollt, dem Addams Family Serien-Ableger Wednesday folgt, in dem es der Heldin Wednesday nicht anders ergeht als Elphaba in Wicked. Und das ist dann vielleicht auch der schönste und überraschendste Moment in Wicked, der Besuch der Ozothek, also einer Diskothek im Oz-Format, während dem sich Elphaba und Galinda in einer großartigen Tanzszene das erste Mal annähern, eine Szene, die den ganzen Film zu transformieren scheint, wird doch in diesem Moment die Moral ein weiteres Mal postmodern relativiert, scheint alles möglich, weil nun erst recht unklar ist, wer hier eigentlich die bösen und wer die guten Anteile im Blut hat und zu was sie sich letztendlich ausdifferenzieren werden. Damit richtet sich Wicked natürlich auch gegen die so populären, vereinfachten Narrative unserer Gegenwart, was in diesem bonbonesken Kontext dann auch wirklich überrascht und Spaß macht.
Doch wie in den Musical-Einlagen, die so grenzen- wie maßlos hyperventilieren, mag John M. Chu auch inhaltlich nicht vom Gaspedal lassen, wird über den Besuch beim Zauberer erneut transformiert und gesteigert ohne Ende, bis nichts mehr bleibt als der eine Harry Pottersche Cliffhanger für den zweiten Teil. Das ist in der wilden, schnappatmigen, wilden Inszenierung und als wokes Spektakel durchaus schlüssig und erklärt sicherlich auch die »raving reviews« und fulminanten Boxoffice-Zahlen aus den USA, wo der Film bereits am 22. November 2024 angelaufen ist, doch als »Film« überzeugt Wicked kaum, dazu fehlt ihm der »wahre Mut«.
»Die Hex’ ist tot, die Hex’ ist tot!« – Das skandieren die »Munchkins« ganz zu Beginn des Films, und es wird klar: Wir befinden uns am Ende des 1939 erschienenen Kultfilms Der Zauberer von Oz. Die Handlung von Wicked (Regie: Jon M. Chu) setzt hier nahtlos an, entwickelt sich jedoch in die entgegengesetzte Richtung: Die Vorgeschichte der beiden bekannten Hexen steht im Zentrum, denn – Überraschung! – sie waren befreundet, die gute und die böse Hexe; sie teilen sich eine gemeinsame Vergangenheit, gar den selben Werdegang. Wie wird man also böse und wie gut? Warum ist die »Wicked Witch«, die böse Hexe des Westens, zu dem Scheusal geworden, das sich seit Ende der 30er-Jahre in das kulturelle Gedächtnis eingeschrieben hat…
In diesem Kontext macht es Sinn, den Film als Erscheinung seiner Zeit und seiner Produktionsumstände einzuordnen, zu hinterfragen, warum und mit welchen Absichten er gedreht wurde.
Da wäre zunächst einmal die Ausgangslage: War die grüne, böse Hex’ im Original noch das Sinnbild des Verkommenen, das manifestierte, symbolische Böse, die Antagonistin in Paradeform, wird sie nun fein säuberlich ausbuchstabiert, ihre Motive und Beweggründe der Reihe nach offen
gelegt.
Das passt zum Anspruch des modernen Mainstream-Kinos, der in der Ambivalenz liegt, keine »Bösen« mehr hervorbringt, sondern gekränkte Individuen, echte Menschen sozusagen, denen das Böse erst gesellschaftlich zukommt. Ein Schwarzweiß gibt es nicht, doch ebenso wenig eine Zuspitzung, ein Denken in klaren Symbolen, das sich auf die Ästhetik überträgt. Der Ansatz ist dabei dennoch progressiv, eine Einordnung der bereits zur Tradition gewordenen Feindbilder in ihren sozialen
Rahmen. Im Falle der bösen Hexe gibt es dafür genug Stoff, doch die Frage bleibt: Bräuchte es in diesem System nicht für jeden einzelnen Charakter eine Hintergrundgeschichte? Können wir die Antagonisten in Wicked überhaupt verdammen? Es wäre ein anderer Ansatz an den Film, vielleicht ein interessanterer, so wird lediglich die Hauptfigur ernsthaft betrachtet; darf ihre Geschichte entfalten, darf aber genauso neuen bösen Bösewichten entgegentreten…
Ihr Schicksal ist dabei wenig erheiternd: Kindheitstrauma, mit grüner Haut auf die Welt gekommen, vom Vater verschmäht, von Gleichaltrigen verlacht, im Schatten ihrer Schwester stehend. Sie hat es auf keinen Fall leicht, diese Elphaba (so der Rollenname, gespielt wird sie von Cynthia Erivo). Dafür ist sie mit außergewöhnlichen Kräften gesegnet, kann zaubern, diese Kunst aber noch nicht beherrschen. Über Umwege kommt sie durch diese Begabung an einen Platz an der renommierten
Glizz-Universität, Privatunterricht von der prominenten Professorin für Zauberwissenschaften, Madame Akaber, inklusive. Zu eben jener Professorin möchte auch Galinda, die später zur guten Hexe werden wird. Die Schulung der beiden nimmt einen Großteil des Films ein, sie teilen sich ein Zimmer, werden von Feinden zu Freunden etc.
Doch dem Film liegt es an mehr, so harmlos und berechenbar, wie es auf den ersten Blick scheint, ist Wicked nicht geworden. Im
Zentrum steht (zumindest thematisch) Fremdenhass und darauf aufbauend systematische Unterdrückung, wie sich das »Andere« zu eigen gemacht werden kann, um die eigene Position abzusichern und zu verstärken, kurz: Wie unterdrückt wird, um sich selbst als Held zu erheben.
Mit diesem Thema ist es dem Film dabei durchaus ernst, und er ergründet es in verschiedenen Stufen und Ausprägungen. Zum einen ganz konkret auf Ebene der Handlung – die (sprechenden) Tiere sollen aus dem gesellschaftlichen Leben verbannt werden, ihnen soll die Mündigkeit genauso wie die Fähigkeit zu sprechen an sich genommen werden – zum anderen in klug gewählten Einzelmomenten. Galinda etwa bietet häufig ihre »Hilfe« an, stets jedoch mit dem Hintergedanken, sich
selbst auf diese Art zu profilieren. Jene, denen sie hilft, dürfen sie niemals überragen, müssen innerhalb ihres dadurch etablierten Abhängigkeitsverhältnisses ihre Zuarbeiter bleiben.
Diese Momente erreichen nun sicherlich keine intellektuellen Höhen, doch sie sind sehr achtbar, und im Sinne des Großes-im-ganz-Kleinen-Erzählens ein willkommener Ausgangspunkt für diesen Jugendfilm. Dennoch bleibt ihnen eine untergeordnete Stellung inne, sie bilden zwar den Hintergrund,
werden allerdings immer wieder (und gerade im Hauptteil) von den Abenteuern an der Universität untergraben. Jene verlaufen völlig nach den etablierten Standards, uns wird das Balzverhalten der Studenten nahegebracht, irgendwelche Streits über Klamotten und Selbstinszenierung entstehen, hier mag eine Gruppe die andere nicht, oder dort gibt es Ärger bei der Zimmerverteilung. Das ist dermaßen eingefahren und altmodisch – und vor allem lang –, dass jeder Drive des
Films auf der Strecke bleibt. Ohnehin ist es fraglich, warum dieser Aspekt so viel Raum bekommt. Mit der eigentlichen Geschichte hat das herzlich wenig zu tun, und wirkt an vielen Stellen wie gezieltes Futter für Marketing und Trailer.
Die Schule und das College ziehen schließlich immer, dieser geordnete Raum, in dem noch illusorische Klarheit herrschen darf, man neues lernt, neue Freunde findet, in dem die größte Sorge die Party am Wochenende darstellt. Zu Weihnachten kann man quasi fest mit einem derartigen Film rechnen (letztes Jahr war es Saltburn), bald werden wir sogar mit der Harry-Potter-Serie beschenkt, die dann das gleiche nochmal macht, nur x-Stunden lang und auf wohl bekanntem,
beinahe heimischem Terrain.
Wicked positioniert sich in dem gleichen Fahrwasser, reichert es aber mit dem politischen Thema an, und verfolgt jenes dankenswerterweise ab dem letzten Drittel komplett. Und doch scheint es selbst hier nur Vorwand zu sein.
Dieses übergeordnete Thema nämlich kann sich nie als tatsächliches Anliegen des Films behaupten, zu durchbrochen ist die Dramaturgie, zu wahllos die Szenenfolge. Was sich auf dem Poster noch verbirgt, wird nämlich im Vorspann sichtbar: Wicked: Teil 1 müsste es richtig heißen. Es ist nur der erste von zwei Teilen, allerdings bereits 160 Minuten lang. Eine Konzentration jeglicher Art liegt also fernab von den Zielen des Films, und dergestalt gestaltet er sich dann auch: Keine Dringlichkeit (abgesehen vom Finale) entfaltet sich, es folgt eben Szene auf Szene, es ist immer noch Platz für eine Musicalnummer extra, für einen kleinen Flirt an der Seite oder ein paar hämische Blicke, die den Film drosseln und nur so vor sich hinlaufen lassen. Schlecht ist das nicht unbedingt, es stellt sich mehr eine gediegene Langeweile ein, eine gewisse Gleichgültigkeit.
Inszeniert wird dabei sehr dynamisch, der Film gönnt sich keine Pausen, noch die letzte Belanglosigkeit wird mit großem Elan und einer tatsächlichen Freude am Zeigen inszeniert. Der Musical-Aufbau macht dabei absolut Sinn, wie im Original ist die Musik stets präsent, schwillt im Hintergrund laufend an, bis sie sich in den choreografierten Tanz- und Singmomenten entlädt. Jene sind pompös gestaltet, viel ausschweifender als noch im Zauberer. Die Kamera zeigt mehr Bewegung, reichert die Szenen mit Close-Ups an, steht Kopf oder erlaubt sich ähnliche Tricks.
Das ist zu jeder Zeit gelungen, macht Freude und offenbart eine willkommene Spiellust, einen kreativen Zugang zu einer alten Tradition. Besonders frappant zeigt sich der historische Unterschied dabei in der nun dominierenden Verwendung des Digitalen.
Waren es früher noch
gemalte Hintergründe und theatrale Tierkostüme, die die Realität entfremden und verkünsteln, gewissermaßen vergrößert haben, sind es nun eben computergenerierte Kulissen und CGI-Ziegen, die sprechen. Paradoxerweise wirken diese Momente noch befremdlicher, ästhetisch zwar realistischer, keineswegs aber lebensnaher. Gerade das Ausgestellte des Originals macht es so greifbar und fantasievoll, nun dominiert die Imagination, die sich selbst verwirklicht, der keine
Grenzen mehr gesetzt sind – und die damit keine Verbindung mehr zur tatsächlichen Lebensrealität hat. Das ist befremdlich und nicht besonders beeindruckend, schlecht designt aber dennoch nicht. Nur entfremdet eben.
Dieses Gefühl vermitteln ebenso die Kostüme. Die Schuluniformen stehen ganz im Zeichen des Films, der das Außergewöhnliche salonfähig machen möchte. Sie haben versetzte Muster und ungewohnte Materialien, viele Schnörkel und dezente Asymmetrien zieren sie. Man kann hier von einem Patchwork-Stil sprechen, der durch die einheitliche Präsentation (es gibt schließlich keinen angelegten Gegenentwurf) aber doch wieder zur Einheit wird. So sind die Designs durchaus unangepasst,
verlieren aber ihre außergewöhnliche Note durch die fehlende Abgrenzung.
Auch hier: Das Konzept geht im Rahmen des Films auf, passt zum Bon-Bon-Land Oz. Nur Eleganz findet sich keine, was wohl auch mit dem oben erwähnten Drang zum Erklären zusammenhängt. Wo jeder Hut eine Background-Story hat, jeder geflügelte Affe erst hergeleitet wird, da finden sich keine Mysterien mehr, keine Symbole, die ihre Anmutung aus der in ihnen liegenden Ambivalenz schöpfen.
Es ist – und das
konsequent – ein Film gegen Vorannahmen und Voreingenommenheiten, eine einzige Erklärung, die gigantische Exposition. Das wird ästhetisch schnell blass, wird zu vorrangig moralisch, wird uninteressant. Immerhin stimmt die Absicht.
Doch wie ernst kann man einen solchen Film tatsächlich nehmen?
Es ist in der Konsequenz ein reines Produkt der Kulturindustrie, und als solches sollte man es auch besprechen. All die wichtigen Themen, all die guten Einfälle, sie bleiben doch nur Zuarbeiter für ein unkonzentriertes, vor sich hinwaberndes Werk, das kein Interesse hat, jene Themen formal zu fassen. Sie kommen schon vor, das stimmt, doch sie entfalten sich nicht, werden nicht entschieden genug behandelt, sind im Grunde Rechtfertigungen. Klassendenken böse, Unterdrückung
böse, Individualität wichtig – doch wie sich diese Fragen auflösen, was denn nun daraus wird, das behält sich der Film vor, verspricht es für den zweiten Teil.
Wir müssen also warten auf die entscheidende Antwort, wie man sich in einer solchen Welt behaupten kann – und natürlich noch einmal 15€ Eintritt zahlen, wenn es dann nächstes Jahr so weit ist.
Ob dadurch alle Fragen geklärt werden, darf gerne bezweifelt werden, bestimmt klappt es aber mit der nächsten Hintergrundgeschichte, ganz sicher sogar mit der übernächsten. Es gibt schließlich noch viele Hüte, deren Herkunft wir nicht kennen!