Die Witwe Clicquot

Widow Clicquot

USA 2023 · 90 min. · FSK: ab 12
Regie: Thomas Napper
Drehbuch:
Kamera: Caroline Champetier
Darsteller: Haley Bennett, Tom Sturridge, Natasha O'Keeffe, Cecily Cleeve, Sam Riley u.a.
Die Witwe Clicquot
Zwischen Moral und Amoral...
(Foto: Capelight)

Schwarz und Weiß

Thomas Napper macht aus einer wahren Erfolgsgeschichte aus den napoleonischen Kriegen ein kluges, schönes und sehr gegenwärtiges feministisches, aber auch neoliberales Zeitgemälde

»Jeder für sich in dieser Wüste des Egoismus, die man Leben nennt.«
– Stendhal, Rot und Schwarz

Nein, das ist kein weiterer Werbefilm der fran­zö­si­schen Tourismus- und Wein­in­dus­trie, wie sie seit Jahren regel­mäßig in deutschen Kinos aufschlagen und von denen die meisten Titel so schnell wieder vergessen sind, wie ein Glas Wein geleert ist und von denen nur wenige bestehen, so wie etwa Cédric Klapischs Der Wein und der Wind (2017), der einer jungen Frau dabei zusieht, wie sie nach dem Tod der Eltern das elter­liche Weingut weiter­führt und dabei versucht familiäre Iden­ti­täten ins Gleich­ge­wicht zu bringen.

Nicht viel anders ergeht es auch Barbe-Nicole Clicquot. Doch es sind nicht ihre Eltern, die sterben, sondern ihr junger Ehemann, so dass sie mit gerade einmal 27 Jahren die Leitung der von ihrem Schwie­ger­vater gegrün­deten Cham­pa­gner­marke übernimmt und versucht, ganz im Sinne ihres manisch-depres­siven und durch Selbst­mord verstor­benen Mannes, die Marke mit inno­va­tiven Methoden auszu­bauen. Was sich so wie in Klapischs Film nach einer femi­nis­ti­schen Selbst­er­mäch­ti­gung in unserer Gegenwart anhört, passierte so tatsäch­lich aller­dings bereits zu Zeiten der Napo­leo­ni­schen Kriege und war ange­sichts der patri­ar­chalen Struk­turen nicht nur im Winzer­ge­werbe alles andere als leicht.

Thomas Napper konzen­triert sich in seinem Film allein auf die Anfangs­jahre der histo­ri­schen Barbe-Nicole Clicquot-Ponsardin, also auf die Zeit, als die von Haley Bennett darge­stellte Barbe-Nicole auf fast allen Ebenen lernen musste sich zu eman­zi­pieren: beruflich und wirt­schaft­lich, aber auch part­ner­schaft­lich, denn schon in der zwar arran­gierten, aber leiden­schaft­li­chen Ehe mit François (Tom Sturridge) wird schnell klar, dass Barbe-Nicole wegen des fragilen Geis­tes­zu­stands ihres Mannes den Mann im Haus stehen und auch die Wirt­schaft führen muss. Und das sehr erfolg­reich, wie Frauen das ja immer wieder bewiesen haben. Man denke etwa nur an die von Hans-Volker Gretschel in Von Kamp­witwen- und Waisen (Windhoek/Göttingen 2009) erin­nerten Frauen des damaligen Südwest­afrika, die nach der Inter­nie­rung ihrer Männer während des Zweiten Welt­kriegs die Farmen so erfolg­reich weiter­ge­führt hatten, dass es nach der Rückkehr für viele Männer schwierig war, sich dem neuen Rollen­ver­s­tändnis anzu­passen.

Napper erzählt die Ehe Barbe-Nicoles in kreativ-kompri­mierten zehn Minuten, kommt aber in Rück­blenden immer wieder darauf zurück und baut so langsam ein dichtes Porträt des Paares und seines Umfelds und vor allem der Arbeits­me­thoden in den Wein­bergen und im Labor auf. Dabei wird jedoch nicht nur von François’ »Expe­ri­men­tier­freude« und den u.a. damit gekop­pelten psycho­ti­schen Schüben erzählt, sondern auch von seiner offen­sicht­li­chen Bise­xua­lität, mit der sich Barbe-Nicole genauso arran­gieren kann, wie mit François’ »engstem« Freund, dem Wein­händler Louis Bohne (Sam Riley). Das mag ein wenig aufge­setzt und zwangs­ge­gen­wärtig klingen, doch da Napper in seinem auf dem Best­seller The Widow Clicquot der Kultur­his­to­ri­kerin Tilar J. Mazzeo basie­renden Drehbuch auch Voltaires aufge­klärte und auch heute noch modern anmu­tenden Werke zitiert, machen auch die Bezie­hungs­expe­ri­mente und die Selbst­er­mäch­ti­gung einer Frau in den Wein­bergen Sinn, gab es doch gerade in diesen Jahren schon Vorbilder wie die Voltaire-Vertraute Émilie du Châtelet, die ebenfalls zitiert wird.

Deshalb ergibt es auch Sinn, dass Napper immer wieder die Chro­no­logie der Erzählung verlässt und sich auf spannende Zeit- und Bezie­hungs­sprünge einlässt und in wunderbar foto­gra­fierten Momenten die Zeit still­steht, Momente, in denen Haley Bennett Renais­sance-Gemälden wie Leonardo da Vincis Bildnis der Ginevra de Benci entsprungen zu sein scheint und ihre Rolle mit einer umwer­fenden und soghaften Inten­sität ausspielt, die allein den Film schon lohnt.

Die Witwe Clicquot bietet natürlich noch mehr, vor allem mehr als die pure Nach­er­zäh­lung eines unge­wöhn­li­chen Lebens. Denn neben der kreativen Wucht der Witwe und den noch zarten Frau­en­rechten fokus­siert Napper auch sehr eindring­lich auf die wirt­schaft­li­chen Perspek­tiven der damaligen Zeit und macht deutlich, dass wir es bei der Witwe Clicquot auch mit einem äußerst kreativen Vorläufer von Elon Musk zu tun haben. Denn so wie Musk kennt auch Barbe-Nicole keine mora­li­schen Grenzen. Das sieht bezüglich ihrer Selbst­fin­dung auf sexueller Ebene und in der Leitung ihres Weinguts zwar noch politisch korrekt aus, doch ist sie dann auch bereit, die durch Napoleons Konti­nen­tal­sperre imple­men­tierte Embargo-Politik zu unter­laufen, also für den Erfolg so ziemlich alles zu tun, was nötig ist, um ihre inno­va­tiven Produkte an den (russi­schen) Mann zu bringen, wirt­schaft­lich zu überleben, und in ihrer mora­li­schen Inte­grität fragile Risse zuzu­lassen.

Dabei ist das natürlich genauso modern und gegen­wärtig wie das Singen mit den Weinreben, aber natürlich auch genauso unver­zeih­lich, denn was hier letzt­end­lich propa­giert wird, ist ein Kapi­ta­lismus ohne Fehl und Tadel, der nicht viel anders handelt als Elon Musk und die vielen Silicon Valley-Größen, denen Inno­va­tion ebenfalls stets genauso wichtig wie ihre ganz persön­liche Selbst­er­mäch­ti­gung war.