Frankreich 2022 · 94 min. · FSK: ab 12 Regie: Héloïse Pelloquet Drehbuch: Rémi Brachet, Héloïse Pelloquet Kamera: Augustin Barbaroux Darsteller: Cécile de France, Grégoire Monsaingeon, Félix Lefebvre, Imane Laurence, Jean-Pierre Couton u.a. |
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Begehren und Gefühlen folgen... | ||
(Foto: Atlas Film) |
Weites Meer, ein Fischerboot, ein mit dem Schwanz wedelnder Hund sowie ein Mann und eine Frau, die Hand in Hand arbeiten, untermalt von einer leicht melancholischen Melodie – das sind die ersten Bilder des soliden Langfilmdebüts Wild wie das Meer der französischen Regisseurin Héloïse Pelloquet.
Die Hauptfigur Chiara, gespielt von Cécile de France, ist eine Fischerin belgisch-italienischer Abstammung, die seit fast zwanzig Jahren mit ihrem Mann (gespielt von Grégoire Monsaingeon) auf einer kleinen Insel vor der französischen Atlantikküste lebt. Zusammen arbeiten sie hart auf einem Fischerboot. Die Kamera folgt unentwegt ihren schnellen Arbeitsabfolgen in einer fast schon dokumentarischen Weise. Dabei steht Chiara ihrem Mann bei den körperlich anspruchsvollen Arbeiten in nichts nach. Beide agieren auf Augenhöhe und wirken wie Gleichgesinnte. Auch in der kleinen Dorfgemeinschaft, in der jeder jeden kennt, scheint sie vollständig integriert zu sein. Als das Ehepaar einen neuen Auszubildenden aus wohlhabendem Hause namens Maxence (Félix Lefebvre) bei sich aufnimmt, beginnt es zwischen der 45-jährigen Chiara und dem etwa 20-jährigen Maxence nach kurzer Zeit zu knistern: Sein verstohlener Blick auf ihre Brust, die unter dem T-Shirt hervorblitzt, sein Oboe-Spiel auf einer Hochzeit, das in ihr tiefe Emotionen auslöst, ihre Hochzeitsrede, die ihn berührt. Wenngleich sie die sexuelle Spannung mit aller Mühe zu ignorieren versucht, kann sie ihrem Verlangen irgendwann nicht mehr widerstehen. Voll von glückseliger Leidenschaft, aber auch mit Zweifeln und schlechtem Gewissen, stürzt sie in dieses sinnliche Liebesabenteuer, wohl wissend, dass ihre Affäre jederzeit ans Licht kommen kann.
Dabei geht es der Regisseurin nicht darum, Chiara als Ehebrecherin zu verurteilen oder ihr Verhalten mit einem erhobenen Zeigefinger moralisierend zu bewerten. Stattdessen zeigt sie einerseits Chiaras überwältigende Gefühle für Maxence, andererseits ihre innere Zerrissenheit zwischen den beiden Männern. Dies funktioniert dank Pelloquets wohlwollender Betrachtung der Hauptfigur und ihrer weiblichen Perspektive, die den Film maßgeblich prägt, sehr gut.
Zudem
ermöglicht sie durch geschicktes Spiel mit den Geschlechterparadigmen, die sie umkehrt, ein stereotypfreies und authentisches Bild einer facettenreichen und unangepassten Frau entstehen zu lassen, die einfach glücklich und sie selbst sein will.
Der Film bietet eine gelungene Mischung aus Realismus und Romantik, ohne jemals ins Kitschige abzudriften. Auch die erotischen Szenen, die durchweg eine romantische Dimension besitzen, sind realistisch inszeniert. Vor allem aber wird dieser realistisch-romantische Spagat dank der schauspielerischen Leistung der Hauptdarstellerin möglich. Cécile de France gelingt es, die verschiedenen Facetten ihrer Figur virtuos zu verkörpern. Einerseits ist sie eine hart arbeitende, starke und aktive Frau mit einer gewissen Rauheit und Ungeschliffenheit, andererseits bringt sie sowohl ihre ungezügelte Sinnlichkeit als auch ihre Schüchternheit und Sanftmut in den Liebesszenen mit Maxence zum Ausdruck, was ihre Zartheit und Zerbrechlichkeit durchscheinen lässt. Der junge Mann mit seiner Subtilität, seinem jugendlichen Elan und Abenteuergeist scheint wie Sprengstoff auf Chiara zu wirken, was in ihr ein unstillbares Verlangen entfacht. Und dann ist da noch ihre wilde Seite, ihr ungestümer Drang nach Freiheit, Selbstbestimmung und Lust nach Grenzüberschreitungen, die durch die zahlreichen Inszenierungen ihrer starken Verbundenheit mit dem Meer betont werden, als ob sie ein Teil dieses unberechenbaren Elements wäre.
Auf den ersten Blick mag der Film vielleicht als ein romantisches Melodrama mit einer relativ banalen Handlung erscheinen. Bei genauerem Hinsehen jedoch entpuppt er sich als ein komplexes soziokulturelles Abbild der zeitgenössischen Gesellschaft. Durch die Motive des Aufeinanderstoßens unterschiedlicher Milieus, des Altersunterschieds zwischen den beiden, verstärkt durch eine selten thematisierte Inversion (ältere Frau und jüngerer Mann), sowie der Thematik des Nicht-Dazugehörens enthüllt die Regisseurin die vorurteilsvollen Machtstrukturen unserer Gesellschaft.
Viel mehr noch: Der Film entlarvt die Doppelmoral unserer Gesellschaft. Als Frau bist du so lange geduldet und akzeptiert vom immer noch herrschenden Patriarchat, solange du nach seinen Regeln spielst. Chiaras Affäre wird in ihrer neuen Heimat als äußerst skandalös und verrucht angesehen. Wenn es jedoch um eine umgekehrte Konstellation geht, in der der Mann eine Affäre hat, demonstriert der Film ein stillschweigendes Einvernehmen seitens der Dorfgemeinde. Und da haben wir es – die Hypokrisie, wie sie im Buche steht. Und auch wenn das Patriarchat nicht überall seine frühere unangefochtene Position innehat, schlägt es in diesem Film mit voller Wucht durch, was in der Szene gipfelt, in der Chiara von den Dorfjugendlichen mit Steinen beworfen und als Hure beschimpft wird. Man fühlt sich in die Szenerie aus dem Johannesevangelium versetzt, mit einer entscheidenden Ausnahme: Hier gibt es keinen Jesus, der sie beschützt und freispricht, sondern nur die engstirnigen Teenager, die die doppelmoralische Haltung ihrer Eltern borniert fortsetzen.
Dabei schrieb Simone de Beauvoir bereits 1949 »Das andere Geschlecht«, in dem sie die nicht wechselseitigen Geschlechterparadigmen, die abstrakte Vorstellung der Geschlechtergleichheit und das Hypostasieren von Frauen analysierte und kritisierte. 70 Jahre später präsentiert der Film ein konstruiertes Narrativ der vieldiskutierten Gleichberechtigung der Geschlechter – zumindest in solch kleinem Dörfchen. In dem Moment, in dem Chiara die männliche Position in Bezug auf sexuelle Selbstbestimmung einnehmen will, erwachen die alten Geister des alten, langsam erodierenden, aber stets wachsamen Phallogozentrismus. Die Beschränktheit des Dorfes fühlt sich an wie ein Rückschlag für den hart erkämpften Feminismus. Allerdings lässt sich Chiara keineswegs als ein Objekt von ihrem Umfeld behandeln: Sie bestimmt selbst, wohin ihr Leben führt.
Héloïse Pelloquet zeichnet hier das Porträt einer selbstbewussten Frau, die den Mut aufbringt, ihren Begehren und Gefühlen zu folgen und ihr Liebesleben selbst zu gestalten, ohne sich von ihrer engstirnigen Umgebung einschüchtern zu lassen.
Ein feministisches Manifest für starke, unangepasste Frauen!