Wie wilde Tiere

As Bestas

Spanien/F 2022 · 139 min. · FSK: ab 12
Regie: Rodrigo Sorogoyen
Drehbuch: ,
Kamera: Alejandro de Pablo
Darsteller: Denis Ménochet, Marina Foïs, Marie Colomb, Luis Zahera, Diego Anido u.a.
Filmszene »Wie wilde Tiere«
Showdown im Saloon...
(Foto: STUDIOCANAL)

Die bestialische Seite der Menschen

Einheimische versus Außenseiter: Wie wilde Tiere vom Spanier Rodrigo Sorogoyen ist ein exzellenter »Land«-Thriller über die emotionale Agenda der Rechtsextremisten

Ein kräftiges Pferd kämpft, um sich aus den Händen und Armen einer Gruppe von Männern zu befreien, die versuchen, es fest­zu­halten. In Zeitlupe wird das Aufein­an­der­treffen der Körper – Mensch und Pferd – als reines Spektakel präsen­tiert: Es ist der Kampf, subli­miert im Akt des Greifens, Schubsens, Wider­ste­hens und schließ­lich Beschwich­ti­gens. Über dem Bild ist zu lesen, dass die Männer dort die Tiere rasieren und brand­marken, »um« – Zitat! – »ihre Freiheit zu sichern«.

Freiheit im ganz unmit­tel­baren Sinn – das ist womöglich für Menschen und Tiere gar nichts so Verschie­denes. Sie bedeutet losge­lassen zu sein, unberührt von Beein­flus­sungen, Diszi­pli­nie­rungen, Zivi­li­sie­rungen, von Kontrolle und Regeln der Anderen. Auch frei von all den wohl­mei­nenden Zumu­tungen, die doch nur zum eigenen Besten sind, die Gemüter schöner machen, oder wenigs­tens Texte.

Die Eröff­nungs­se­quenz von As Bestas (zu deutsch: Wie wilde Tiere) dem neuen Film von Rodrigo Sorogoyen, zieht die Grenze zwischen der Brand­mar­kung eines unter­wor­fenen Tieres und dem freien Willen selbst.
Die Szene ist in Zeitlupe gedreht und hat eine unbe­streit­bare visuelle Schönheit. Sie scheint zunächst mit dem Rest der Handlung nichts zu tun zu haben, aber sie ist eine Warnung und zeigt uns den Kampf ums Überleben auf der elemen­tarsten Ebene, der sich dann im Laufe der Handlung auf einer anderen Ebene weiter­ent­wi­ckeln wird.

Wir befinden uns im Reich der Metaphern, denn natürlich geht es in diesem Kampf nie nur um Pferde, sondern um Menschen.

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Antoine hat das Tempe­ra­ment und die Ausdauer eines Vollblut-Hengstes. Der in Frank­reich aufge­wach­sene und an der Univer­sität ausge­bil­dete Mann lebt seit einiger Zeit mit seiner Frau Olga in einem kleinen Dorf in Galizien. Sie haben eine durchaus ehren­werte, gemein­nüt­zige Aufgabe: Sie wollen die vielen verlas­senen Häuser des herun­ter­ge­kom­menen Dorfes nach­haltig sanieren, damit bald neue Gene­ra­tionen und Ökotou­risten dort leben können, und auch sonst ökolo­gisch nach­hal­tige Land­wirt­schaft prak­ti­zieren. Dafür haben sie ihre gesamten Erspar­nisse einge­setzt.

Der Rest des Dorfes, es sind nur neun Familien, inter­es­siert sich dafür wenig. Die Altein­ge­ses­senen haben vor langer Zeit einen Pakt mit einem norwe­gi­schen Öko-Ener­gie­un­ter­nehmen geschlossen, um ihm ihr Land für den Bau von Windrä­dern zu verkaufen. Mit dem schnellen Geld könnte man sich aus dem Staub machen... Wäre da nicht die Tatsache, dass für den Vertrag eine Zustim­mung aller Bewohner erfor­der­lich ist, und die Stimme von Antoine und seiner Frau steht alldem bislang im Wege. Olga und Antoine, gespielt von Marina Foïs und Denis Ménochet »ticken« anders. Diese gebil­de­teren Franzosen argu­men­tieren anders und mit »fairen Preisen«.
Ange­sichts der Einmi­schung der Zuge­reisten revol­tieren die Brüder Anta, die in dem ster­benden Dorf schon aufge­wachsen sind, und um die Chance fürchten ihrem Schicksal zu entkommen, das nur noch aus einem Haufen ständig betrun­kener Dörfler besteht, deren Leben sich auf Alkohol und das Domino-Spiel reduziert hat. , Die einhei­mi­schen Galizier betrachten die Verkaufs­chance als einzigen Ausweg aus ihrer Misere und die einzige Möglich­keit, ihr Leben zu verbes­sern.

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Der 1981 geborene Rodrigo Sorogoyen ist einer der wich­tigsten Regis­seure des spani­schen Gegen­warts­kinos. El reino, Madre und jetzt As Bestas sind unver­zicht­bare Werke der spani­schen Kine­ma­to­grafie. Sorogoyen erzählt in seinem neuen Film zwar von einer klas­si­schen Feind­schaft zwischen Nachbarn in einem gali­cis­chen Dorf, das zwischen Moderne und Tradition, Konser­va­tismus und Fort­schritts­ver­spre­chen hin und herge­rissen wird. Darüber entwi­ckelt er sich aber auch zum Sozio­logen der Stadt-Land-Verhält­nisse und gegen­sei­tiger Vorur­teile und dekon­stru­iert die Formen, die die Span­nungen zwischen Nachbarn annehmen können, die sich allmäh­lich von einer brutalen Beläs­ti­gungs­kam­pagne zu einem Krieg auswachsen.
All das übrigens auf Grundlage eines realen Falles.

Wie wilde Tiere ist heraus­ra­gendes Genre-Kino. Die Land­be­wohner sind hier zurück­ge­blie­bene Deppen oder echte Monster. Sie brüllen, und schimpfen, oder schweigen und blicken bedroh­lich.

Insbe­son­dere der Älteste der Familie Anta ist eine faszi­nie­rende Figur: Die Atmo­sphäre um ihn herum ist mürrisch, allein schon wegen der Gewalt, die jede seiner Gesten nur mühsam verbirgt.

Irgend­wann verändert sich dann das Verhältnis: Anta und Antoine reden mitein­ander, aber nur um in eine andere Art von Kampf, eine ehren­haf­tere einzu­treten. Unter vier Augen, fast wie Kameraden, reden sie, geben ihre Motive an und machen ihren dann Krieg offiziell. Indem das Drehbuch sie als Soldaten mit Gründen betrachtet, legt es wie die Kriege des Huma­nismus, die regel­ba­sierten Kriege der Frühen Neuzeit, den Grund­stein für eine nach­hal­tige Konfron­ta­tion und vor allem eine, die bestimmte Tricks nicht mehr erlaubt.

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Soro­go­yens Bilder spielen mit der Angst, mit dem Schrecken, der entsteht, wenn man weiß, dass das Böse ohne Erlaubnis oder Bedenken in unser Haus eindringen kann: Die Welt verwan­delt sich in einen wahren Albtraum.

Die Handlung macht mehrere über­ra­schende Wendungen. Und erweitert sich vom Exploita­tion-Thriller in der Tradition eines Sam Peckinpah zu einem sozialen Essay.

Unter­gründig ist dies ein Film über das Leben auf dem Land, das Zurück­ge­blie­ben­sein und die Sehnsucht nach Fort­schritt strebt. Zugleich aber auch ein Film über Projek­tionen: In mancher Hinsicht roman­ti­siert der Film nämlich das Landleben aus der Perspek­tive der Städter, die den Fort­schritt im Gegensatz zu den Land­be­woh­nern nicht mehr begehren, sondern verachten, weil er für sie die Ursache eines univer­salen Zusam­men­bruchs ist.

Es geht um den Neo-Rura­lismus, die neue Sehnsucht nach dem Land, die die Sehnsucht einer recht elitären Minder­heit ist und um den Konflikt zwischen zwei Welten: Die erste Welt ist die, die scheinbar schon immer da war, und die angeblich jetzt nicht mehr wirt­schaft­lich und kulturell überleben kann. Die Welt der Vieh­züchter, die das Leben der Kühe begleiten, die wilden Pferde zähmen.

Auf der anderen Seite stehen die Neo-Bauern, die an die Utopie glauben, nach der das Land das einzig mögliche Über­bleibsel des Para­dieses auf Erden ist. Die einer Poetik anhängen, nach der das Leben auf dem Land mit einer idyl­li­schen Welt oder mit einer bestimmten ausge­gli­chenen Lebens­weise asso­zi­iert wird, mit einer anderen Zeit­lich­keit, die sich der städ­ti­schen Moderne wider­setzt. Tiere werden nicht geschlachtet, sondern gehören in den Gnadenhof, und für das Gemüse gibt es glück­li­cher­weise noch genug Käufer in der bösen Stadt.

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In Deutsch­land hat gerade erst der Soziologe und Rechts­extre­mismus-Forscher Wilhelm Heitmeyer in einer Analyse der letzten Land­tags­wahlen darauf hinge­wiesen, dass die Wähler der AfD und andere Rechts­extre­misten weitaus häufiger auf dem Land zu finden sind, als in der Stadt.

Rodrigo Sorogoyen fängt diese aktuellen poli­ti­schen Diskurse und Konflikte ein, zwischen den »Some­wheres« und den »Anywheres«, die von der extremen Rechten im Namen des Fort­schritts miss­braucht werden, um aus einer konkreten Situation poli­ti­sches Kapital zu schlagen. Ohne scheinbar Partei zu ergreifen, zeigt der Regisseur uns den Konflikt zwischen Fort­schritt, Progres­si­vität, gutem Gewissen und den armen Schlu­ckern, die nicht wissen, wie sie aus dem Elend heraus­kommen sollen. Es ist ein Konflikt darüber, wer das Recht hat, vom Land zu leben.
Mit exzel­lenten Schau­spiel-Leis­tungen, visua­li­sierter Spannung und einer sehr persön­li­chen Perspek­tive des Autoren­fil­mers gelingt ein exzel­lentes Beispiel für die aktuelle poli­ti­sche Situation.
Die Freiheit lässt sich nicht sichern. Man muss sie Tag für Tag erkämpfen.

Es ist auch eine Welt, in der eine Frau die Matri­ar­chin ist, die alles gesehen hat, aber nie darüber gespro­chen hat, weil Schweigen ihre Strategie ist. Sorogoyen gibt uns viele Hinweise auf die Wege, die die Geschichte nehmen könnte, aber zum Glück bricht er immer wieder mit Erwar­tungen und macht aus seinem Film ein solides Werk, ein unbe­quemes, aber hoch­span­nendes Erlebnis. As Bestas packt und lässt niemanden entkommen.

Verfluchte Heimat

Rodrigo Sorogoyens Drama über Heimat, Identität und Rassismus ist ein furioser und beunruhigender Genre-Mix, der nicht nur die richtigen Fragen stellt

Unsre Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer, unsre Heimat sind auch all die Bäume im Wald.
Unsre Heimat, ist das Gras auf der Wiese, das Korn auf dem Feld und die Vögel in der Luft und die Tiere der Erde und die Fische im Fluss sind die Heimat.
Und wir lieben die Heimat, die schöne, und wir schützen sie, weil sie dem Volke gehört, weil sie unserem Volke gehört.

– Unsere Heimat, Pionier­lied in der DDR

Die wahre Geschichte, die hinter Rodrigo Soro­go­yens filmi­scher Erzählung steht, ist natürlich viel einfacher als der Film und eigent­lich nur deswegen der Rede wert, weil sie zum einen zeigt, dass ein xeno­pho­bi­sches Verbre­chen nicht unbedingt zwischen Einwan­de­rern aus dem globalen Süden und Norden statt­finden muss und zum anderen fast schon exem­pla­risch andeutet, wie Kunst Realität trans­for­mieren und erweitern kann.

Denn zum einen erzählt Sorogoyen unter leichten Abwand­lungen sehr realis­tisch die tatsäch­liche Geschichte von Antoine (Denis Ménochet) und Olga (Marina Foïs), die aus Frank­reich ins spanische und sehr ländliche Galizien auswan­dern, um zwischen tradi­tio­nalen Bauern einen Biobau­ernhof zu eröffnen, der über die Verkäufe auf einem Wochen­markt auch ganz gut läuft. Doch schon bald mehren sich Konflikte, vor allem, weil sich das zuge­wan­derte Paar geweigert hat, einen Vertrag zu unter­schreiben, der es einem Wind­ener­gie­un­ter­nehmen erlaubt, Windräder in der Region zu plat­zieren. Für die Franzosen, die das Land wegen ihrer Unberührt­heit lieben, ein Verstoß, für die seit Jahr­hun­derten regio­nalen Bauern ein Segen, weil es Kompen­sa­ti­ons­zah­lungen geben soll. Da ihr verbit­terter Nachbar Xan (Luis Zahera) und sein Bruder Lorenzo (Diego Anido) auf Franzosen generell nicht gut zu sprechen sind, einmal mehr noch, wenn sie gebildet daher­kommen und alles besser wissen, eskaliert die Situation um die »verlausten Hühner­fi­cker«, und Worte allein sind als Waffe schon bald nicht mehr ausrei­chend.

Sorogoyen insze­niert diese Geschichte dann jedoch weit komplexer als faszi­nie­renden Mix aus Thriller, Neo-Western und sozi­al­rea­lis­ti­schem Drama, der in wenigen Minuten durch eine einlei­tende Szene, in der wilde Pferde gebändigt werden, etabliert wird. Denn von dieser Szene geht es sofort in den »Saloon«, in der die ersten frem­den­feind­li­chen Worte fallen. Hier setzt die klaus­tro­pho­bi­sche Kamera von Alejandro de Pablo markante Akzente, bohrt sich in die versehrten Gesichter und Körper der einhei­mi­schen Bauern, die nicht stärker mir dem Auftreten des »alter­nativ« auftre­tenden Fremden kontras­tieren könnten, der nicht nur eine andere Welt mit anderen Werten vertritt, sondern auch eine andere Körper­sprache präsen­tiert.

Sorogoyen nimmt sich in seinen knapp zwei­ein­halb Stunden dann genug Zeit, um nicht nur die Genese von Frem­den­feind­lich­keit und damit asso­zi­ierter Gewalt einer Fall­studie gleich zu skiz­zieren, sondern auch ethno­gra­fisch den Alltag der »Eindring­linge« in ihrer neuen Heimat zu porträ­tieren und gleich­zeitig auch so etwas wie Empathie für den Heimat­be­griff der Einhei­mi­schen zu entwi­ckeln. Damit hinter­fragt er subtil die Gut- und Böse-Dicho­tomie der Genres, die er gleich­zeitig zitiert. Wie wilde Tiere erzählt dadurch nicht nur ein spanisch-fran­zö­si­sches Drama im Kleinen, sondern entwi­ckelt fast so etwas wie eine Blaupause für jeden der vielen Migra­ti­ons­kon­flikte, die es weltweit gibt und fragil natürlich auch ein im Entstehen begrif­fenes Staa­ten­ge­bilde wie die Europäi­sche Union ist. Über das Kleine wird akkurat das Große erzählt, und fast schon ein Diskurs in den Raum gestellt, der mit starken Bildern und groß­ar­tigen Dialogen alte und neue Heimat­be­griffe thema­ti­siert.

In diesem toxischen Mix aus Rassismus, Blut- und Boden­alltag und Geschichte und der perfiden neoli­be­ralen Wirt­schafts­po­litik natio­naler und globaler Ener­gie­un­ter­nehmer vergisst Sorogoyen in seinem mit 9 Goyas (u.a. bester Film, beste Regie sowie bester Haupt­dar­steller) ausge­zeich­neten Film aber nicht seine Thriller-Elemente und eine Zuspit­zung des Konflikts unter starker Frau­en­be­tei­li­gung, die an Kelly Reichardts tollen Neoneo-Western Meek’s Cutoff erinnert, in dem ebenfalls Heimat und Identität und natürlich Gewalt essen­ti­elle Faktoren der Geschichte sind. Der Film endet auf der Höhe des Konflikts, die Realität ist fast genauso über­ra­schend. Antoines Witwe Olga (Marina Foïs) lebt noch immer mit ihren Schafen in ihrem Haus in Santoalla und ist die letzte Bewoh­nerin des Dorfs geworden.