Deutschland 2017 · 101 min. · FSK: ab 12 Regie: Thomas Frickel Drehbuch: Thomas Frickel Kamera: Voxi Bärenklau, Thomas Frickel Schnitt: Torsten Truscheit |
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Stuhl in Extremsituation |
Der Titel erweist sich als doppeldeutig, was besonders das Filmplakat mit seinen aufgebrochenen Buchstaben unterstreicht, bei denen das R ins N übergeht: Hinter Wunder der Wirklichkeit, dem einstigen Kompilationstitel einer Kurzfilmrolle mit Arbeiten des Rüsselsheimer Filmemachers Martin Kirchberger, steckt gleichsam »Wunden der Wirklichkeit«. Thomas Frickels Dokumentarfilm beginnt mit dem tragischen Tod des jungen Regisseurs im Dezember 1991. Durch sämtliche Medien lief damals die schockierende Meldung über das Flugzeugunglück bei den Dreharbeiten zu Kirchbergers Bunkerlow, bei dem der Filmemacher samt seinem fast kompletten Team ums Leben kam. Am letzten Drehtag zu einer makaberen Parodie auf Verkaufsshows und Heizdeckenfahrten vor dem Hintergrund atomarer Aufrüstung prallte die Maschine bei Nebel gegen einen Berg in der Nähe von Heidelberg. 28 Menschen kamen bei dem Unfall ums Leben.
Regisseur Thomas Frickel, der sich mit früheren Arbeiten wie Deckname Dennis (1997) ebenfalls auf bissig-gesellschaftskritischen Bahnen bewegte, benötigte über 25 Jahre, um mit zeitlichem Abstand die Tragödie filmisch aufzubereiten. Der einstige Filmkritiker des »Darmstädter Echos« war mit Martin Kirchberger als bekanntem Vertreter der Rhein-Main-Filmszene befreundet. Als Mitarbeiter des »Rüsselsheimer Echos« fiel ihm die traurige Aufgabe zu, Nachrufe auf die Gestorbenen zu verfassen, was er am Ende der filmischen Recherche einfließen lässt. Zu Beginn empfängt Thomas Frickel, inzwischen Vorsitzender der AG Dok, am Rüsselsheimer Bahnhof Kirchbergers Kameramann Volker 'Voxi' Bärenklau (Das deutsche Kettensägenmassaker). In Folge übernahm Bärenklau, der die Stadt seit Jahrzehnten bewusst umging, die Kamera bei den Interviews mit Freunden, Bekannten und Familienmitgliedern des Aktionskünstlers.
Für den Rezensenten stellt Wunder der Wirklichkeit ebenfalls eine kleine Zeitreise dar. Martin Kirchbeger begegnete ich Mitte der Achtziger nach einer Lesung des Frankfurter Schriftstellers und Zeichners Robert Gernhardt. Der stets kommunikationsfreudige Mitgründer der »Cinema Concetta«-Gruppe berichtete uns über die Pläne zu seinen satirischen Kurzfilmen, aber auch über deren Finanzierungsprobleme. Schgaguler etwa war als Pseudodokumentation über einen angeblichen Gurkenstecher im verschneiten Winter konzipiert. Frickel schneidet beides an – sowohl Kirchbergers Verehrung für Gernhardt als Meister des Bildgedichts, der Parodie und des uneigentlichen Sprechens als Stilform als auch die Schwierigkeiten, Film- oder Fernsehförderung für satirisches Kino zu erhalten. Als wir uns das nächste Mal trafen, musste Martin Kirchberger von zahlreichen Absagen berichten. Davon ließ er sich nicht ins Bockshorn jagen, sondern plante kurzerhand, eigenes Geld in die Projekte zu stecken.
In Kirchbergers eigenen Bildgedichten, die Frickel per Trickfilmeinlagen zum Leben erweckt, lässt sich deutlich Gernhardts poetische, bissige Handschrift entdecken. Wie der Mitbegründer der »Neuen Frankfurter Schule« wandelte Kirchberger munter zwischen den Kunstformen. Gernhardts schriftstellerisches Prinzip, mit überhöhten Scheininterviews die Mechanismen der Medienwelt zu persiflieren, übersetzte Kirchberger in einen filmischen Kosmos. Insofern bewegten sich seine Mockumentaries als bewusst verfremdete Gegenwartsaufnahmen in Tradition und Fortführung des Frankfurter Satireprinzips.
Glücklichweise existiert von seinen Anfängen als Anti-Startbahn-West-Aktivist, Mitglied einer Punkrock-Theatergruppe oder Wandmaler, der allzu kommerzielle Aufträge ablehnte, noch reichlich Bild- und Filmmaterial, selbst wenn vieles jenseits der Perfektion ausfiel. Für den Namen seiner Kinogruppe »Cinema Concetta« ließ sich Kirchberger von seinem Sozialdienstjahr inspirieren, da seine Lieblingsschülerin einer Behindertengruppe den Namen Concetta trug.
Mit einer Mischung aus Interviews und Dokumenten bis hin zu den »Tagesschau«-Bildern des tragischen Unglücks schuf Thomas Frickel ein umfassendes Porträt der Rhein-Main-Künstlerszene der Achtziger. Einziges Manko stellt der Verzicht auf Inserts dar. Stets muss man aus den Worten der Gesprächspartner auf ihre Verbindung zu den Verunglückten schließen, was letztlich aber kein Problem darstellt.
Tragische Ironie des Schicksals: Erst bei Bunkerlow konnte Kirchberger endlich auf Gelder der Hamburger und Hessischen Filmförderung bauen. Was der Beginn einer Filmkarriere hätte werden können, bedeutete gleichsam ihr abruptes Ende. Für die südhessische Filmszene bedeutete der Unfall einen schweren Schlag. »Die Hochschule für Gestaltung in Offenbach lag danach für ein Jahr wie im Koma«, sagt Gunter Deller, Experimentalfilmer und Co-Leiter des Frankfurter Programmkinos Mal Seh'n nach einer Vorstellung von Wunder der Wirklichkeit.
Mit den posthum gegründeten satirischen Kurzfilmtagen in Rüsselsheim sowie dem jetzt digitalisierten Oeuvre von Kirchberger und Partner Ralf Malwitz gerät ihr Gesamtwerk jedenfalls nicht in Vergessenheit. Ihre Filme als Spiegel medialer Wirkungsweisen sind es wert, wieder oder erstmals entdeckt zu werden, um sich den Wunden der Wirklichkeit zu stellen.