USA 2000 · 104 min. · FSK: ab 12 Regie: Bryan Singer Drehbuch: Tom DeSanto, Bryan Singer Kamera: Newton Thomas Sigel Darsteller: Hugh Jackman, Patrick Stewart, Ian McKellen, Famke Janssen u.a. |
Regen, Uniformen, die mit Maschinengewehren bewaffnet auf Wachtürmen stehen, meterhoher Stacheldraht und die Häftlinge, die wie Vieh durch ein großes Tor getrieben werden. Ein kleiner Junge sieht sich um, point-of-view, und auf der Leinwand erscheinen die ausgezehrten Gesichter von Arbeitern in gestreiften Hemden. Die Schaftstiefel reißen das Kind von seiner Mutter los, es gibt Tränen und Geschrei. Die Gattertür fällt zu und der Junge macht sich frei, mit telepathischer Kraft wirft er zunächst ein paar Nazis zu Boden und bringt dann den Stacheldraht zum Einsturz. Die Spätgeborenen brauchen die Einblendung Polen 1944 gar nicht, die paar etablierten Zeichen genügen, um die Zeit und den Ort zu finden.
Einen Schnitt später springen wir ins kanadische Kleinstadt-Idyll in eine nicht allzu ferne Zukunft. Teenager, nett und adrett, die Nachhilfe in Sachen Liebe versuchen. Das Mädchen Rogue küßt ihren Auserwählten schließlich und später wird man erfahren, dass sie aus allem, was sie berührt, die Lebensenergie absaugt. Doch zunächst bleiben ihr Ursprung und Sinn ihrer Fähigkeiten verborgen. Sie weiß nur, dass sie anders ist, dass der Typ in ihrem Bett durch ihren Kuss fast stirbt und dass sie die Familie, die Heimat verlassen muß, weil sie eine Bedrohung ist. Auf ihrer Flucht begegnet sie Wolverine, der die Sache mit den Klingen, die von Zeit zu Zeit aus seinen Fingerknöcheln springen vielleicht mittlerweile akzeptiert, aber sicherlich nie ganz verstanden hat. Im Wohnwagen fährt er durch die Gegend, bestreitet Schaukämpfe in verruchten und düsteren Lokalen. Er und Rogue finden zusammen und schließlich führt sie ihr Weg ins Internat für gifted children eines Professor X, der alles hegt und pflegt was von der Norm abweicht.
In Zeiten der schönen neuen Welt, in denen alles was nicht Ken und BarbieIdeal ist möglichst verhindert werden soll, legt Regisseur Bryan Singer mit X-men ein energisches Veto gegen die Konformität ein. Er setzt auf Heterogenität statt genetischer Homogenität, inszeniert einen Film im Reich des Phantastischen und beleuchtet so die Feuilletondiskussionen um das Genom als letzte Entscheidungsinstanz über Gut und Böse aus einer Perspektive die klar Stellung bezieht und Mutationen als Möglichkeit begreift. Sein Blick richtet sich auf das Andere, den Teil, der zunächst nicht in die sozialen Entwürfe der genetisch perfekten Gesellschaft paßt. In der nicht allzu fernen Zukunft soll dieser ausradiert werden, so wie in der nicht allzu fernen Vergangenheit, in der Eingangssequenz, als in Polen schon einmal selektiert wurde, das Leben vom Leben, das Kind von seiner Mutter. Dort fällt die Auswahl zusammen mit der Geburtsstunde des Bösen in X-men, das 1944 ein kleiner Junge war, jetzt Magneto heißt und sich an der Normalität rächen will für alles, was sie ihm angetan hat. Ihm gegenüber Professor X, an der Spitze des Lichts, des Guten, symbolisch für den Teil der Mutanten der sich integrieren, Freund sein und die Pläne Magnetos durchkreuzen will.
Willkommen im Universum der Superhelden. X-men ist die Verfilmung eines Marvel-Comics und spielt in einer Welt aus Schwarz und Weiß, aus Ambivalenzen, primär im Antagonismus X und Magneto der sich fortführt in der Zerrissenheit der weiteren Figuren. Zu den außergewöhnlichen Kräften gesellt sich das Gefühl der Differenz, der Verlorenheit und Isolation innerhalb einer Menschheit, die alle Unterschiede a priori als Bedrohung sieht. Die Marvel- Welt ist eine Welt der zu großen Gefühle, der zu großen Bedrohungen, die zumeist hanebüchen wirkt, wenn man sie von Papier auf die Leinwand übersetzen will. Comics sind Einzeleinstellungen, bringt man sie in Bewegung offenbart das Kino plötzlich seine oft beschworene Affinität zur Realität und der Film wirkt eher peinlich. Aber Blade hat schon gezeigt, wie der Comic im Kinosaal funktionieren kann und X-men macht das alles noch ein bißchen besser. Exemplarisch in der ersten Szene, wo die Regie genau den Punkt trifft, den Raum, in dem der Ohnmächtige seine fremde aber dennoch manchmal überlegene Sprache entwickelt. Die Inszenierung hält dabei immer die Balance, schafft die Gratwanderung zwischen großen Sensationen und der Lächerlichkeit. Die Geburtsstunde des Superhelden, deus-ex-machina, der im eigenen Körper lebt, der Augenblick, aus dem die Kinderträume bestehen, wird unspektakulär in Szene gesetzt (wie Connor McLeods Worte an den Nazi in Highlander, »Was ich auch sage, Krautfresser, ihr seid doch die Herrenmenschen.«) und jagt einem doch einen Schauer über den Rücken, sofern man bereit ist, sich einzulassen.
Bryan Singer geht den umgekehrten Weg eines Tim Burton in seinen beiden Batman-Filmen (und den umgekehrten Weg eines Joel Schuhmachers und seiner hysterischen Popigkeit in den beiden letzten Folgen). Er stellt seine Helden nicht in eine komplett synthetisierte Welt, versucht den Filmraum nicht dem illusionären Wesen der Superhelden anzugleichen. Wolverine, Rouge und später Storm und Zyklop können sich in der normalen Welt durchaus bewegen. Am Bahnhof in New York steht dann irgendwann Zyklop in voller Montur und sieht aus wie ein Außerirdischer. X-men thematisiert da die Kluft die entsteht, wenn ein Superheld in die Welt einbricht. Und sieht das alles mit ironischer Sympathie, indem er einen kleinen Jungen mit großen Augen zeigt, für den das Fremde zwar fremd ist, aber der dennoch zu lächeln beginnt. Die mise-en-scène setzt natürliche Zeichen (Regen, Schnee, Licht, Farbe) ein, um den Raum zu etablieren, in dem sich die Figuren entwickeln können, ohne lächerlich zu wirken. Singer gelingt es, Kadrierungen zu schaffen, die teilweise die Qualität des Comics erreichen ohne zu karikieren. Wenn Professor X während eines Kongresses seinen Antagonisten zur Rede stellt und Magnetos Gesicht im Bildvordergrund völlig im Dunkeln liegt, dann hat das den Charakter einer Zeichnung und schafft eine dichte Atmosphäre. Es muß kein Gotham-City aus der Retorte erschaffen werden, der Showdown findet einfach in New York statt. Singer reduziert die Zeichen, was allem einen futuristischen Anstrich gibt ohne gleich in die reine Phantasie zu verweisen. Die Special-Effects werden ökonomisch eingesetzt und die Narration muß hinter den technischen Spielereien nicht verschwinden. Es passiert, dass die Einstellung ein Gesicht groß zeigt und die eigentliche Sensation (Mensch, der eine Wand hinaufläuft) ganz beiläufig in den Hintergrund verschoben wird. Auch den Nebenfiguren Storm und Zyklop wird zumindest eine Szene geschenkt, in der sie Individuen sein dürfen, mit Wünschen, Ängsten, usw.
Kino der Illusionen, man geht hinein in den dunklen Raum, setzt sich, darf für neunzig Minuten noch einmal neun Jahre alt sein und kann sich später alles noch einmal vor einem ernsten Hintergrund durch den Kopf gehen lassen.