USA 2009 · 106 min. · FSK: ab 16 Regie: Gavin Hood Drehbuch: David Benioff Kamera: Donald McAlpine Darsteller: Hugh Jackman, Ryan Reynolds, Liev Schreiber, Dominic Monaghan, Lynn Collins u.a. |
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The Wild One: Wolverine (Hugh Jackman) |
Was sind Götter anderes als Geschichten, die sich die Menschen erzählen? Geschichten, um sich und die Welt zu erklären, zu begreifen. Geschichten, um Gemeinschaft zu stiften zwischen denen, die an sie glauben.
Und was sind Superhelden viel anderes als Götter ohne metaphysischen Wahrheitsanspruch? Ihr Comic-Universum ist ein Spandex-Pantheon, der gar nicht so viel anders ist als der antike, von den griechisch-römischen Deitäten besiedelte. Sie sind Götter für ein Zeitalter,
dessen wahre Religion die Populärkultur ist. Sie lassen uns (All)Machtsfantasien träumen und lehren uns zugleich, dass auch der Supermensch menschelt, dass große Macht auch große Verantwortung mit sich bringt. Es ist gar nicht nötig, an sie wirklich zu glauben oder sie auch nur ernst zu nehmen – trotzdem sagen sie uns, wie alle Träume, etwas darüber, wer und wie wir sind. Trotzdem lehren sie uns etwas über Gut und Böse.
Wolverine will von Anfang an nichts weniger sein als ein Porträt eines Gotts als angry young man. Unter der ganz großen Geste macht es dieser Film nicht.
Als es darum geht zu erklären, weshalb der junge Mutant James »Logan« Howlett sich den Namen Wolverine zulegt, bedient er sich dann auch tatsächlich bei der Religion: Er zitiert eine (angebliche?) indianische Legende, nach der der Trickster den Geliebten des Mondes in Gestalt eben eines Vielfraßes/Bärenmarders (engl. Wolverine) in die Welt der Menschen gelockt hat. Und dieser nun, da eine Rückkehr in die Geisterwelt unmöglich ist, jede Nacht seine kalt und fern am Himmel prangende
Holde nur hilflos anheulen kann.
Das ist aber nicht mehr als ein Artikel in dem riesigen, pickepacke vollen Einkaufskorb, den sich der Film aus allen Regalreihen des globalen Mythen-Supermarkts zusammenrafft.
Er legt los mit klassisch märchenhaft-freudianischen Mustern vom Vatermord und Bruderzwist. Hechelt sich dann zur eigentlichen Eröffnung durch eine Montage amerikanischer Kriege, die sich explizit bei »The Red Badge of Courage«, All Quiet On the Western Front, Saving Private Ryan und Apocalypse Now bedient. Und kaum scheint damit das eigentliche Thema des Films etabliert, nämlich der Krieg und der Verlust an den Glauben seiner unbedingten
Heldenhaftigkeit, schlägt der Film die nächste Volte und macht Wolverine zum »Rebel with a cause«: Da blitzen dann in kurzer Folge der Brando aus The Wild One, James Dean und der Motorradtrip nach New Orleans aus Easy Rider auf. Wolverine, ganz klar, ist einer der großen Loner, der Einsamen und Einzelgänger der US-Popkultur. Und Gavin Hoods Film klinkt sich, wo immer er
kann, stets in die mythischste, größte denkbare Ahnenreihe ein. Superman wird von einem netten, alten Farmer-Ehepaar großgezogen? Na, dann muss Wolverine wenigstens ein paar utopische Stunden bei einem solchen verbringen.
Gavin Hood versucht, der Ursprungsgeschichte seiner Titelfigur größtmögliche Wucht zu verleihen. Aber es ist eine andere Art von Gewicht als jene thematische und psychologische Bedeutungsschwere, die Bryan Singern den ersten beiden X-men-Filmen mit auf den Weg gab.
In Wolverine ist trotz allem das ironische Augenzwinkern nie allzu fern; gerade am Anfang sind auch regelrechte Pointen dicht gesät. (Der Satz »Great! Stuck in an
elevator with a bunch of men on a high protein diet...« macht es wieder wett, dass der Film sich auch in Sachen Gags gerne fremdbedient und die Szene um den Spruch herum aus Blues Brothers »ausgeliehen« hat.) Wenn Wolverine seinem Mutantenschicksal zu entfliehen sucht und unter die Holzfäller geht, dann kann man nie ganz sicher sein, ob das nicht ein Meta-Witz ist, zu dem die Drehbuchautoren durch
den wortspielenden Titel der Waldarbeiter-Reality-Soap »The Ax-Men« inspiriert wurden. Und gerade, als sich der Tonfall später doch einzudunkeln scheint, taucht mit einem zum grotesken Fettberg gewordenen Ex-Kameraden Wolverines die comicafteste Figur des Films, geradezu ein wandelnder Cartoon-Charakter auf.
Doch es ist nicht sein – im übrigen sehr gut zu Hugh Jackmans Leinwand-Persona passender – Witz, der das Projekt des Films letztlich untergräbt und sein Streben nach gottgleicher Größe für seinen Helden verpuffen lässt. Nein: Das geschieht, weil Wolverine sich vor lauter Mythen-Manie für nichts entscheiden kann.
In seiner Gefräßigkeit nach Glanz aus altbekannter Archetypen-Hand vergisst er, dass die großen Mythen ihre Kraft eben nicht aus einem
endlosen Anhäufen von allem Greifbaren beziehen. Sondern aus ihrer fundamentalen Einfachheit und Klarheit. Ihre Universalität besteht nicht darin, dass sie sich alles einverleibt haben und für jeden alles sind. Sondern dass sie einen derart grundlegenden Aspekt des menschlichen Daseins in solch überhöhter Reinkultur darstellen, dass fast jeder darin etwas wiedererkennen kann.
Wolverine aber galoppiert, kaum hat er ein Mythen-Feld angerissen, sofort
zum nächsten. Und will sich auf keinem für etwas entscheiden, auf etwas festlegen, das wirkliche Konsequenzen hätte.
Da beginnt der Film etwa, wie gesagt, mit seinem großen Durchmarsch durch das US-Kriegsfilm-Genre. Lässt seinen Protagonisten angewidert von sinnlosen Massakern und gewissenlosem Söldnertum den weiteren Gehorsam verweigern. Aber wenn man dann erwartet, er würde in seinen Fantasien auch den Missbrauch der Militärmacht unter Bushs Regime widerspiegeln, dann zieht
er sich doch wieder (und explizit) darauf zurück, dass nur ein halbwahnsinniger Renegat seine eigenen Ziele verfolgt, gegen den erklärten Willen auch des an sich ehrenvollen Militär-Establishments.
Dafür liefert Wolverine eine alternative Erklärung für die Kernschmelze in den Atomreaktoren auf Three Mile Island – nicht gerade eines der präsentesten Themen heutzutage, 30 Jahre später.
Auf zu viele Schein-Tode folgt die wundersame
Auferstehung, auf zuviel tödlich geglaubte Konflikte die Versöhnung. Wolverine ist ein Einzelgänger mit ein paar zu vielen prima Freunden. Hoods Film scheut sich, Wunden zu schlagen die nicht heilen, deren Schmerz bliebe. Irgendwann bleibt nur noch ein Trauma-Hintergrundrauschen, in dem alles gleich geworden ist. (»Was it the wars?,« fragt seine Freundin den Helden, als er aus einem Albtraum hochschreckt. »Yes.« »Which one?« »All of them.«)
Freilich ist es nicht allein die Schuld des Films, dass Wolverine zwar amüsant die Zeit vertreibt, am Ende davon aber wenig übrigbleibt, was nachhallt: Wolverine leidet an der strukturellen Krankheit so vieler Prequels. Er ist eine sehr ausgedehnte Fußnote zu einer bereits bekannten Geschichte. Zu der er nur Hintergrundinformation beitragen darf, aber nichts, was deren fiktionale Welt wirklich woanders hinbewegen würde. Es ist ein
Ausfüllen von Lücken, die gerade bei der überlebensgroßen, klargezeichneten Natur solcher Comic-Götter nie wirklich als Lücken empfunden wurden.
Und so müht sich der Film, Wolverine mit Mythen-Masse aufzupumpen – nur um am Ende den ganzen Ballon wieder platzen zu lassen.
Am Schluss muss der große Reset-Knopf, die Delete-Taste gedrückt werden. Damit wir möglichst genau wieder da sind, wo wir am Anfang von X-Men schon mal waren.
Nur dass damals Wolverine für sich und uns ein Mann auf der Suche nach seiner verdrängten, vergessenen Vergangenheit war. Und wie so oft: Das Geheimnis war größer, reizvoller und reicher als es die bunte Ausbuchstabierung je sein konnte.
Als Gott ohne Gedächtnis war uns Wolverine eigentlich näher, hatte uns mehr zu sagen, als der hier aufgebaute Mythen-Popanz.
»You are not an animal!« ruft ihm seine Geliebte einmal zu. »Oh yes, you are.« kontert sein Bruder Victor, der ältere, zynischere der beiden, ein teuflisch-charmanter Verführer. Dies, der Konflikt zwischen Tier und Mensch, zwischen Genen und Erziehung, ist der Grundkonflikt, von dem Wolverine handelt, in dem Gavin Hood nun eine Ursprungsgeschichte der X-Men erzählt. Im Gewand der Fantasy und des klassischen Bildungsromans geht es um die düstere Seite jedes Helden. Zugleich passt dieser nachdenkliche, gebrochene Film perfekt zum politischen Gezeitenwechsel in den USA. Wolverine ist ein scheinbar Unschlagbarer, dessen Wunden schnell verheilen.
Man darf, das gleich vorweg, nicht zu spät kommen zu Wolverine. Und man sollte auch nicht zu früh gehen. Denn die allerletzte Szene kommt erst am Ende des Nachspanns, ein Epilog, der das Thema des Films in anderer Form noch einmal zusammenfasst. Die Szene handelt von der Schwierigkeit des Erinnerns, davon wie die Zukunft mit der Vergangenheit untrennbar verschaltet ist. Die Zukunft, sie liegt in diesem Film von Anfang an bereits hinter uns: Drei X-Men-Filme haben wir erlebt, zwei davon mehr oder weniger großartig, der letzte missglückt. Nun also X-Men Origines: Wolverine, zwei weitere werden folgen. Der Nachteil dieser neuen Mode der Prequels liegt auf der Hand: Man weiß bereits, was aus Figuren werden wird, vor allem weiß man, wer überlebt, die Spannung also muss woanders her kommen. Der Vorteil allerdings ist nicht weniger offensichtlich: Die Unschuld des Anfangs darf wieder da sein, Figuren können auftauchen, die später bereits gestorben sein werden, über die sich aber noch mehr erzählen lässt, gesetzt, man dreht die Zeit zurück. Und gerade bei einem Film wie diesem, der Verfilmung eines bekannten Comics, dürfen die Macher davon ausgehen, dass ein Großteil des Publikums weiß, worum es geht, was passieren wird, usf.
Zu spät kommen darf man nicht, weil der Anfang ganz hervorragend ist, weil er den Film prägt, den Ton setzt, weil er in einer unglaublich atemlosen Montage uns hineinreißt in die vergangene Zukunft dieses Films, unseren Kopf in die andere Richtung dreht, und wieder zurück, weil er in kürzester Zeit einen Mahlstrom vor unserem Auge entfesselt, der alles mitreißt, der eine Kette von Begebenheiten vor uns auftürmt und in eins gießt. Wie der Engel der Geschichte von dem Benjamin schreibt, sieht auch der Film eine einzige Katastrophe, häuft zugleich unablässig Trümmer auf Trümmer und schleudert sie uns vor die Füße. Ein Sturm weht aus der Hölle der Kindheit in die Gegenwart, vertreibt die zwei Gestalten des Anfangs aus dem Paradies mit seiner zeitlosen Unschuld hinein in die Geschichte, in der sie nicht sterben können, ewig jung bleiben, Rachengel und Untote, gelangweilt von einer Mission, die sie nicht kennen und einem Glück, das sie nicht erhaschen können. Dieser Sturm treibt sie unaufhaltsam in die Zukunft, und walzt die Gegenwart platt ins Bedeutungslose, während der Trümmerhaufen der Ereignisse zum Himmel wächst. Das, was wir Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.
Mutanten. Freaks. Davon handelt der Film. Es geht los in einem düstren Märchenwald, wie aus einer der Geschichten von den Brüdern Grimm. Wir sehen – »Canada 1844« – zwei Jungen. Der eine schneidet sich die Fingernägel, die längst Krallen ähnlicher sind, der andere, auf dem unser Augenmerk ruht, ist ängstlich und krank. Sie kommt schnell, die blutige Initiation, die folgen muss: Als der Vater getötet wird, tötet der Kränkliche den Mörder, und muss erkennen, dass dieser sein eigentlicher Vater war. Mit dem Vatermord/Gottesmord und dem Entsetzen der Mutter beginnt der Auszug aus dem Paradies, in den Wald, verfolgt. Zwei Brüder. Ein Bruderzwist.
Und auf diesen Vorspann setzt die Titelsequenz ein: Reißende Zeit, sehr graphische Bilder, aber doch Film, nicht Comic. Dazu Kirchenmusik. Wir sehen Kriege, Kämpfe, Tode, Gewalt, wir erkennen dies Soldier Blue’s des amerikanischen Bürgerkrieg, die Schützengräben des Ersten Weltkriegs, die Landung in der Normandie. Pure Action, ohne Worte, pures Bewegungskino. Aber bezeichnenderweise fehlen die Kriege gegen die Indianer und so ist eines klar: Es geht nicht darum,
amerikanische Geschichte einfach als Krieg und Eroberung zu zeigen, sondern den Freiheitsaspekt in ihr zu betonen. Dieser Logan, der jüngere unfreiwillige Vatermörder ist ein Freiheitskämpfer, der stets auf der richtigen Seite steht. Und so erscheint dieser Schnelldurchlauf in Siebenmeilenstiefeln auch als nachdrückliche Erinnerung an die Meilensteine der US-Historie, an die vergangene Zukunft des Amerikanischen Traums. In Vietnam ist das Ende der Geschichte, dieser
Geschichte dann erreicht.
Dort verlangsamt sich der Film dreht sich auf der Stelle im Kreis, in dem Victor, der ewige Sieger und böse Bruder Logans erstmals sichtbar durchdreht, kurze Blitze des Tötungstriebs, des Exzess' hatten dies schon angedeutet. Jetzt ist die Unschuld endgültig verloren, spätestens jetzt ist der Grundstein gelegt für den mörderischen Bruderkampf, die Kain-und-Abel-Konstellation, die diesen Film über weite Strecken vorantreibt. Eine freudianische
Situation: Vatermord und Bruderzwist. Der Film darf Atem holen, Zwischenbilanz ziehen.
Beide Brüder sind schon Mutanten, sind schon Mischformen aus Mensch und etwas anderem. Weil sie das sind, werden sie nicht älter und sind quasi unverwundbar. Auch vor dem Erschießungskommando der US-Armee. Als sie nicht zu töten sind, hält man sie in Ketten in einem schwarzen Loch. Aus dem holt sie Colonel Stryker (wunderbar zynisch und gequält wie immer: Danny Huston), den wir bereits aus dem zweiten X-Men-Teil kennen. Dort wird er zum Verschwörer gegen den US-Idealismus, zur schwarzen Seele einer bösen Administration, einer Art-Cheney-Figur also. Und bereits hier ist das angelegt: Der Film spielt in den 70er Jahren, Konkretes ist nicht zu erfahren bis auf den Unfall von Harrisburg auf Three-Mile-Island, dessen wahre Hintergründe hier endlich aufgedeckt werden. Stryker aber weiß jetzt schon, dass die »inneren Feinde« der Ordnung gefährlicher sind, als die äußeren, und geht darum hier schon mit allen Mitteln, selbst mit denen eines Doktor Mengele gegen alles vor, was das Andere repräsentiert: »I care, cause I know, how special you are.«
Man muss hier innehalten, und kurz daran erinnern, wovon die X-Menüberhaupt handeln: Die Verfilmung der X-Men-Comics aus dem Hause Marvel erwies sich in ihren beiden ersten, vom Regisseur Bryan Singer verantworteten Folgen als eine der mit Abstand interessantesten und qualitativ besten Kino-Adaptionen einer Comic-Vorlage. Sie gehörten auch deshalb zu den besten und sympathischsten Kino-Adaptionen eines Comic, weil sie im Gegensatz zu anderen Filmen dieses Genres keine martialische Haudrauf-Moral und reaktionäre Werte predigten, weil sie Humor hatten. Vorlage und Filme waren immer vergleichsweise erwachsen und subtil. Das Grundszenario der X-Men dreht sich um die Frage des sozialen Zusammenlebens zweier unterschiedlicher Lebensformen, der Menschen und der »Mutanten«, also »Anderen«. Diese verfügen über – jeweils individuell höchst verschiedene – übermenschliche Fähigkeiten, wobei jede Mutation auch mit spezifischen Schwächen verbunden ist. X-Men ist zutiefst liberale und humanistische, den Individualismus feiernde Fantasy, die primär vom Anderssein und dem Umgang mit ihm handelt. Gerade im politischen Kontext der Bush-Ära mit ihrer Terror-Paranoia und der massiven Einschränkung von Bürgerrechten erschien die liberale Mythologie der X-Men als Gegenentwurf. Zudem verankerten direkte historische Verweise auf Judenverfolgung und Kommunistenhatz den Stoff in der US-amerikanischen Freiheitsgeschichte.
Zentraler Ort und Ruhepol der Handlungen ist eine Schule, seit jeher der Schauplatz eines Optimismus, der an die Verbesserungsfähigkeit des Menschen durch Bildung und Erziehung glaubt, an Aufklärung. In der lernen junge Mutanten den sozialverträglichen Umgang mit ihren Kräften ebenso, wie das Akzeptieren der eigenen Andersheit – Comics wie Filme sind daher auch nicht nur Fantasy- und Superhelden-Action, sondern auch ein metaphorisch verbrämtes Coming-Of-Age-Drama.
Zugleich enthält dieses einen offensichtlichen sozialphilosophischen Subtext, indem jeweils ein gesellschaftspolitischer Konflikt den Ausgangspunkt der Action-Handlung bildet – in allen drei Teilen führt anwachsende Furcht und Unverständnis der Menschen gegenüber den friedlich sich integrierenden Mutanten zur massiven Einschränkung von deren Bürgerrechten. Verführt von neuen biotechnologischen Möglichkeiten, will man im dritten Teil die Mutanten zwingen, sich
durch ein neues Medikament »kurieren« zu lassen. Neben den X-Men, jenen von Professor Xavier geführten »guten« Mutanten, die für Integration und friedliche Koexistenz eintreten, gibt es auch eine zweite, vom ehemaligen KZ-Opfer »Magneto« geführte Mutanten-Fraktion, die auf die Unterdrückung ihrerseits mit militantem Widerstand reagiert. Gegen die intolerante Auffassung des Andersseins als zu therapierende Krankheit setzt Xavier Aufklärung und Magneto terroristischen
Widerstand – der mit rhetorischen Zitaten aus dem Standardarsenal der fundamentalistischen Revolte von den Evangelikalen bis zu Osama Bin Laden garniert wird.
In klaren Metaphern vertraten die beiden ersten Filme eine differenzierte Toleranzbotschaft. Geradezu prophetisch erscheinen im Rückblick jene Passagen des zweiten Teils, in denen Radikalisierungen und Paradigmenwechsel der US-Politik bis hin zu Guantanamo und Abu-Ghraib-Folter vorausgeahnt
werden.
An solche Differenziertheit, Einfallsreichtum und Qualität kann der neueste, vierte Teil der Franchise anknüpfen. Wolverine, gespielt von Hugh Jackman, war von Anfang an auch eine der beliebtesten und eindrücklichsten Superhelden-Hauptfiguren in den drei X-Men-Filmen. Deren Vorgeschichte erzählt nun dieser Film, der zeitlich als Prequel angesiedelt ist, und daher auch gesehen werden kann, wenn man die anderen Filme nicht kennt. Im Fortgang der Handlung erzählt er, wie Wolverine entsteht, dass dieser kein »einfacher« Mutant ist, sondern eine komplexe Mischung aus Mutant und Maschine, ein Über-Mutant, motiviert aus einer doppelten Leidenserfahrung, entstanden aus dem Teufelspakt des Mutanten mit seinem schlimmsten Feind, Colonel Stryker. Der will eine unschlagbare Kampfeinheit begründen, schon vor Vietnam hatten die beiden Mutantenbrüder ja wie gesagt in der US-Armee gekämpft, und eine ironische Lesart des Films ist die geschichtsphilosophische: Dass das amerikanische Jahrhundert in Wahrheit ein Mutantenjahrhundert ist, dass die Siege zwischen 1865 und 1945 nur im Einsatz übermenschlicher Superheldenfähigkeiten begründet liegen. In Vietnam dürfen die Brüder nicht mitkämpfen, das zeigt uns der Film, und vielleicht, vielleicht ging dieser Feldzug nur deshalb verloren? Stryker jedenfalls scheint das zu denken, er will das aus seiner Sicht Gute der Mutanten konservieren, das Schlechte ausmerzen – darum unterwirft er die Mutanten in einer Art Mutanten-KZ weiteren Mutationen.
Wolverine, der hier im Zentrum steht, ist einer der wenigen, der sich dem entziehen kann. Gleich zweifach sieht man ihn rebellieren und aussteigen, sieht man ihn irgendwo in den Bergen des Nordwestens den gleichfalls uramerikanischen Traum vom einfach-einsamen Siedlerleben im Blockhaus träumen, nur begleitet von der hübschen Indianerbraut Kyla Silverfox – auch noch eine Metapher für Naturnähe. Sie erzählt von Indianer-Mythen, ein Märchen vom Trickster, der die Geliebte des Mondes auf die Erde lockte, woraufhin sie nicht mehr zurückkonnte, und von nun an als Wolverine den Mond anheult, wir verstehen sofort, dass dies ein metaphorischer Vorgriff auf die Zukunft ist. Wir verstehen auch, dass dies unter anderem eine Eifersuchtsgeschichte ist, und ahnen, dass da vielleicht auch zwischen den Brüdern Logan und Victor mehr ist, als nur Nebeneinander und Missverstehen. Silverfox berührt gerne die anderen Menschen, und sie spricht von ihren »means of persuasion. It’s a gift.« Wir verstehen das erst später wirklich. Logan, der noch nicht Wolverine heißt, sagt sie: »You are not an animal. What you have is a gift.« Sie ist schließlich Schullehrerin, auch hier also Schule als Metapher für gute Zivilisation, und auch Wolverine braucht Erziehung. Er wird ihr bester Schüler werden. Aber sie muss sterben, das glaubt man früh zu wissen, und wir sehen die Bilder von ihr von Beginn an schon als Erinnerung. Keine Chance auf Glück. Denn das Böse ist Böse. Und die Zukunft ist kontaminiert von der Vergangenheit – woran Wolverine und der zu Sabretooth gewordene Victor, woran auch Stryker leiden, das muss man einem deutschen Publikum nicht erklären.
So entlarvt gerade – das ist die Geschichtsphilosophie dieses Films! – die wahnsinnige Sehnsucht nach dem Idyll, nach der Flucht aus dem Mahlstrom der Geschichte dessen Macht. Geschichte ist verzeitlichte Utopie, Utopie umgekehrt wäre das Anhalten der Geschichte, der jüngste Tag, und dies ist, jedenfalls bevor der Messias erscheint, unmöglich. So ist X-Men Origines: Wolverine auch einer Widerlegung des Rousseauismus, der Vorstellung man könnte zurück zur Natur in die Unschuld und damit die Zivilisation, die notwendig mit Blut und Schuld verbunden ist, einfach abstreifen. Wobei dieser Film niemals so naiv ist, hier mit einfachen Antithesen zu argumentieren. Die Natur ist hier mit dem Kulturellen verzahnt, die Unschuld ist nicht einfach unschuldig, sondern von Schuld, also Erinnerung und Geschichte durchdrungen. Anders wäre es auch unmenschlich. Das gilt für Kyla wie für Logan, der auch hier an der besten Luft der Welt nicht einfach gut schlafen und glücklich sein kann, der zumindest nachts von Träumen gepeinigt wird, schreiend aufwacht: »Was it the wars?« fragt Kyla, »Yes« – »Which one?« – »All of them.« Immer wieder erleben wir auch Charakterwechsel: Aus Guten werden Böse, aus Bösen Gute. Fast jede Figur trägt, in verschiedener Verteilung, beides in sich.
Als Logan zum zweiten Mal zurückkehrt in die um so viel grausamere, blutige Zivilisation, da bleibt er Rebell, nun aber with a cause. Da bekommt er Lederjacke und Motorrad a la Brando, und einen Blick a la Dean. Was er sagt, ist aber ungleich härter, brutaler, und past so gar nicht zu den schönen, romantischen Rebellen des 50er, 60er-Jahre-Kinos, deren Metaphorik er ausborgt: »I am coming for blood, no law, no code of conduct.«
Stryker, sein neuer böser Vater hat ihm zuvor gesagt: »We'll make you indestructible. But before, we have to destroy you.« Das ist es, was alle Militärs sagen, und auch tun, sogar manche Sportcoaches. Aber der zu Wolverine gewordene Logan, der mit »Adamantium«-Metall durchzogene Körper, ist eine Waffe, die sich selbst bedient: Ein Sprung des nackten Körpers in den Wasserfall, das größtmögliche Taufbecken für den größtmöglichen Helden, steht für dessen Neugeburt. »You wanted the animal. You've got it.« schreit er noch. Nur zwei Schwächen hat er, wie Achill, sein unschlagbares Pendant bei Homer: Der Zorn, die Todsünde Ira. Schon X-Men 2, wir erinnern uns, begann mit Mozarts Dies Irae-Chor aus dem Requiem. Die zweite Schwäche Wolverines ist seine ganz persönliche Achilles-Ferse: Mit »Adamantium«-Kugeln kann man ihm sein Gedächtnis rauben, seine Erinnerung abtöten, ihm ein Stück Menschlichkeit rauben.
»Not all who wander are lost.« – das steht auf dem Wagen eines alten Bauenpaares, die Wolverine ein paar Stunden Idylle, sowie Kleider und eine warme Mahlzeit schenken, die ersten Schritte zurück in die Zivilisation. So kreist dieser Film immer wieder darum, wann und wo Zivilisation gut ist, und wo schlecht, wie sich ihre schwarze und ihre weiße Seite zueinander verhalten. Und das ist auch ins Innere verlagert: Wieviel Tier ist in Wolverine und wieviel Mensch. Vom
Übermensch, von der Maschine und der »Terminator«-haftigkeit des Wolverine müssen wir hier einmal schweigen.
Aber Wolverine ist frei, also kann und muss er wählen. Immer wieder steht er vor der Entscheidung, sein menschliches Bewusstsein gegenüber seiner Tiernatur zu behaupten, seine rohe Kraft zu disziplinieren und mit Sinn zu erfüllen, nicht Gefangener seiner Triebe zu werden.
Bereits jetzt hat Wolverine Kinogeschichte gemacht: Denn bereits einen Monat vor dem jetzigen weltweiten Filmstart kursierte eine zu großen Teilen fertige Version des geplanten Blockbusters im Internet. Weit über hunderttausend Menschen luden ihn herunter – ein beispielloser Vorgang. Der Verleih 20th Century Fox schaltete das FBI ein. Jetzt kann man das Ergebnis im Kino sehen. Und man möchte, gemessen an der Fülle der Spezialeffekte, der mitunter bombastischen, in jedem Fall eindrucksvollen Wirkung auf der Kinoleinwand, lieber gar nicht erst wissen, wie ein solcher Film auf Netzgröße geschrumpft, in mieser Datenqualität wohl aussehen mag.
Mit dem Wahlsieg Barak Obamas haben sich auch die Vorzeichen im Kino geändert. Der Außenseiter ist an die Macht gekommen. Die USA scheinen nicht mehr so leicht als Reich des Bösen identifizierbar, wie zu Bush-Zeiten. Wolverine passt nun zu diesem politischen Gezeitenwechsel perfekt – dies ist der erste Action-Film der Obama-Ära. Der erste Film, der uns von Obama erzählt, dem Mutant und Außenseiter im Weißen Haus. Wolverine ist nichts anders, als seine düstere Seite, als sein Inneres, das wir noch nicht sehen können. Aber wir werden sehen, während uns der Engel der Geschichte auf seinen Schwingen in die Zukunft trägt, wir werden erkennen müssen, ob dieser politische Messias auch so unschlagbar ist, wie Wolverine, und ob auch seine Wunden so schnell verheilen, er weiterhin so wundersam wiederauferstehen kann, wie dieser.
Im Zentrum steht somit der klassische Bildungsroman, die Reise eines Helden. Stark und einfach gestrickt wie Achill oder Siegfried muss auch Wolverine erst wie Odysseus oder Wilhelm Meister Herausforderungen bestehen und leiden, bevor er er selbst werden kann. Wolverine funktioniert tadellos als höchst unterhaltsames Stück Popcornkino. Die Tricks sind auf hohem Stand, die Geschichte ist gradlinig erzählt, und mutet dem Zuschauer nicht übermäßige Übertreibungen zu, sondern bleibt konzentriert, fast bescheiden. Im Gewand des Fantasyabenteuers geht es trotzdem um viel mehr: Ein Außenseiter als Held, und eine Figur, die in allem Übermenschlichen und Superheldentum immer human bleibt. Metaphorisch überhöht erzählt uns das von uns selbst: Von der Zivilisierung der Bestie, vom Mensch im Tier. Der Film zum Darwin-Jahr.